Wie viel Evidenz braucht gerechte Inklusion?
Wer gerechte Inklusion gestalten will, braucht Informationen. Wie geht es queeren Menschen in ihrem Alltag? Was sind ihre Erfahrungen mit Diskriminierung, mit Behörden, mit der eigenen Familie? Um solche Fragen zu beantworten und MaĂnahmen zu entwickeln, die die LebensqualitĂ€t und Integration in der Gesellschaft verbessern sollen, braucht es Daten.
Die Erhebung queerer LebensrealitĂ€ten ist oft lĂŒckenhaft, punktuell und hĂ€ngt vom ehrenamtlichen Engagement Einzelner ab. Ein Beispiel aus der Schweiz zeigt, wie es anders gehen kann â und wo auch dort die Grenzen liegen.
Bei den Nachbarn nachgefragt
Etwa 170 Fragen. Mehr als 30 000 Antworten. Von 2812 homo-, hetero-, bi-, pan-, asexuellen, cis-, trans-, nonbinÀren, inter- und endogeschlechtlichen Personen. Auf Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch. So lautet die Bilanz des Schweizer LGBTIQ+ Panels 2023.
Was nach einem einmaligen Mammutprojekt klingt, ist lĂ€ngst keine One-shot-Geschichte. Aufgrund â oder besser: dank â der vielen positiven RĂŒckmeldungen auf die erste Ausgabe erhebt das Panel seit 2019 jĂ€hrlich Daten zur Lebenssituation von queeren Menschen in der ganzen Schweiz. Die Umfrage richtet sich an Personen aller IdentitĂ€ten, Lebenslagen und Sprachregionen. Die Teilnahme ist freiwillig, die Ergebnisse sind in Form von Berichten auf der Webseite abrufbar. Hinter dem Projekt stehen Tabea HĂ€ssler und Léïla Eisner von der UniversitĂ€t ZĂŒrich (Sozialpsychologie).
Ehrenamtlicher Einsatz fĂŒr wertvolle Daten
Der heutige Erfolg begann als ehrenamtliche Initiative. âWir haben das Panel wĂ€hrend unseres Doktorats aufgebaut â neben unserer HaupttĂ€tigkeit an der Uni, mit UnterstĂŒtzung von Freund*innen und Bekanntenâ, erzĂ€hlt Tabea HĂ€ssler. Technische Hilfe, Ăbersetzungen, Verbreitung â vieles lief ĂŒber private Netzwerke. Und obwohl die Studie mittlerweile fest etabliert ist: eine langfristige Finanzierung gibt es bis heute nicht.
Dabei sind die Daten des Panels wertvoll. Das wissen Tabea HĂ€ssler und Léïla Eisner, die beide im Bereich der LGBTIQ+ Thematik forschen. Und inzwischen wissen das auch öffentliche Institutionen: Behörden, NGOs, Medien, auch politische EntscheidungstrĂ€ger*innen greifen auf die Ergebnisse zurĂŒck â teils direkt, teils ĂŒber Fachstellen.
âSeit dem ersten Bericht 2019 bekommen wir regelmĂ€Ăig Anfragen zu VortrĂ€gen und Workshopsâ, sagt Léïla Eisner. LĂ€ngst ist das Panel mehr als ein Forschungsprojekt: Es dient als Informationsquelle fĂŒr evidenzbasierte Inklusionspolitik. Tabea HĂ€ssler ergĂ€nzt: âUns war es von Anfang an wichtig, die Daten nicht nur fĂŒr Forschungszwecke zu erheben, sondern allen interessierten Personen und Organisationen, sowie auch den Teilnehmenden, zur VerfĂŒgung zu stellen.â Die beiden legen Wert auf Transparenz und VerstĂ€ndlichkeit â ihre Ergebnisse teilen sie bewusst öffentlich ĂŒber verschiedene KanĂ€le, darunter auch soziale Medien.
Wie oft braucht es Umfragen?
Ein zentrales Element des Schweizer LGBTIQ+ Panels ist seine RegelmĂ€Ăigkeit. Denn: âNur wenn wir jĂ€hrlich erheben, können wir bestimmte VerĂ€nderungen sichtbar machen â etwa vor und nach politischen Entscheidungenâ, erklĂ€rt Léïla Eisner. Der Fragebogen ist daher modular aufgebaut und kombiniert fixe Fragen zu zentralen Bereichen wie Gesundheit und Coming-out mit flexiblen Elementen, je nach aktueller Themenlage.
Der Blick nach Ăsterreich zeigt: Hier lĂ€uft vieles punktueller. In Wien wurde 2014 erstmals eine Umfrage zu den LebensrealitĂ€ten von LGBTIQ+ Personen durchgefĂŒhrt: âQueer in Wienâ, umgesetzt vom Institut fĂŒr Höhere Studien (IHS) im Auftrag der Wiener Antidiskriminierungsstelle fĂŒr LGBTIQ-Angelegenheiten (WASt). 3161 Personen nahmen an der Befragung teil. Anders als in der Schweiz war das Ziel von Beginn an, eine LĂ€ngsschnittstudie zu gestalten. Allerdings: die Wiederholung folgte 2024, aktuell werden die Daten ausgewertet. Zehn Jahre liegen also zwischen den Messpunkten.
Ist dieser Rhythmus ausreichend, um VerĂ€nderungen verlĂ€sslich abzubilden? âJaâ, meint Wolfgang Wilhelm, Leiter der WASt. âZum einen brauchen wir genĂŒgend Zeit, um die Daten zu erheben und auszuwerten. Vor allem aber, um daraus konkrete MaĂnahmen zu entwickeln und umzusetzen.â So wurde etwa auf Grundlage der Umfrage von 2014 ein Sensibilisierungsprogramm fĂŒr die Polizei zum Thema Gewalt gegen queere Menschen im öffentlichen Raum entwickelt. âBis wir dann den Effekt solcher Aktionen sinnvoll messen können, muss erst genĂŒgend Zeit vergehen.â FĂŒr hĂ€ufigere Erhebungen fehlen schlicht die nötigen Ressourcen.
Zu einzelnen Themen werden in Wien ergĂ€nzend Daten der Agentur der EuropĂ€ischen Union fĂŒr Grundrechte (FRA) herangezogen. Diese untersucht regelmĂ€Ăig die Situation queerer Menschen in Europa. Die Erhebung ist allerdings breit angelegt, die Daten fĂŒr spezifische nationale oder lĂ€ndliche Kontexte wenig aussagekrĂ€ftig. FĂŒr Ăsterreich â abgesehen von Wien als einzigem groĂstĂ€dtischen Raum â lassen sich daher kaum verlĂ€ssliche SchlĂŒsse ziehen.
Eine regelmĂ€Ăige, reprĂ€sentative Erhebung auf Bundesebene, wie in der Schweiz, gibt es bisher nicht. âDiese LĂŒcke ist frustrierend. Wir wĂŒrden uns eine kontinuierliche, landesweite Studie sehr wĂŒnschenâ, meint dazu Flora Alvarado-Dupuy von der Gleichbehandlungsanwaltschaft.
Braucht gute Politik immer Daten?
Dennoch: Nicht fĂŒr alle Initiativen braucht es zwingend Umfragedaten, meinen die Expert*innen. âWenn es um rechtliche Gleichstellung geht, wie beim Diskriminierungsschutz, ist der Handlungsbedarf offensichtlich â dazu sind keine speziellen Studien nötigâ, sagt etwa Flora Alvarado-Dupuy.
In anderen Bereichen aber seien Daten entscheidend: So ging etwa die GrĂŒndung des ersten queeren Jugendzentrums in Wien âQ:WIRâ auch aus den Ergebnissen der Umfrage von 2014 hervor. âWir waren uns des hohen UnterstĂŒtzungsbedarfs von queeren Jugendlichen davor nicht in dem AusmaĂ bewusst. Daher haben wir 2020 noch eine vertiefende Erhebung zu queerer Jugendarbeit in Wien in Auftrag gegeben, die Daten haben uns wichtige Informationen geliefertâ, berichtet Wolfgang Wilhelm von der WASt. Vor allem beim Design des Jugendzentrums, das 2024 im 16. Wiener Gemeindebezirk eröffnet wurde, haben die persönlichen Berichte der Umfrageteilnehmenden eine zentrale Rolle gespielt.
Auch Tabea HĂ€ssler und Léïla Eisner betonen: Daten schaffen Sichtbarkeit â und politische Ăberzeugungskraft. âEin Problem anzusprechen, reicht oft nicht. Um wirklich Gehör zu finden, wollen EntscheidungstrĂ€ger*innen Zahlen sehenâ, sagt Léïla Eisner. Manchmal ist aber sogar das nicht ausreichend. âIn der Debatte rund um trans Personen beobachten wir, dass vorhandene Daten hĂ€ufig ignoriert werdenâ, stellt Tabea HĂ€ssler fest. âStattdessen dominieren Emotionen und Ăngste, oft bewusst geschĂŒrt.â Es sei wichtig, solchen Verzerrungen entschieden entgegenzutreten â insbesondere, wenn sie gezielt politisch instrumentalisiert werden.
In Zeiten, wo politische Diskussionen hĂ€ufig von Halbwissen und Fake News geprĂ€gt sind, ist solide Forschung zur LebensqualitĂ€t gesellschaftlicher Minderheiten umso wichtiger. Dass diese nicht privatem Engagement ĂŒberlassen bleibt, ist eine Frage politischer und demokratischer Verantwortung.
Text von Klara Soukup