Wie ein Schweizer Forschungsprojekt Palliativversorgung für LGBTIQ+ Menschen verbessert
„Ihre Frau kann gerne beim nächsten Mal mitkommen“, sagt der Krankenpfleger freundlich beim Verabschieden, „– oder sonst jemand aus der Familie.“ Eine gut gemeinte Einladung. Nur dass Tom, der an Darmkrebs leidet und palliativmedizinisch begleitet wird, nicht mit einer Frau verheiratet ist. Er lebt seit gut 20 Jahren mit seinem Partner Frank zusammen. Familie? Ja, aber nicht im traditionellen Sinn. Vielmehr eine „chosen family“, enge Freund*innen, die meisten aus der queeren Community. Tom setzt an, um zu antworten – aber aus Angst vor der Reaktion des Pflegers entscheidet er sich für ein schwaches Lächeln und nickt bloß.
Ähnlich wie Tom ergeht es LGBTIQ+ Personen im Gesundheitssystem häufig. Palliativbetreuung betrifft eine besonders verletzliche Lebensphase, in der medizinische Fachleute Sicherheit geben und Vertrauen schaffen wollen. Doch wie in anderen Bereichen fehlt es oft an Sensibilität für die Lebensrealitäten queerer Menschen.
Ein Projekt von, mit und für die Community
Hier setzt ein neues Schweizer Forschungsprojekt an. „TRUST-PALL“ nennt sich die Initiative, die Anfang 2025 am Universitätsspital Lausanne (CHUV) zusammen mit der Universität Zürich und der Fachhochschule Westschweiz gestartet wurde. Das bedeutungsvolle Akronym steht für „Tailoring Respectful and Understanding SupporT for LGBTIQ+ individuals in Palliative and End-of-Life Contexts“. Die Studie untersucht die Bedürfnisse von LGBTIQ+ Personen in Palliativbetreuung, mit dem Ziel maßgeschneiderte und respektvolle Begleitung zu schaffen.
Das Besondere: Die Community selbst gestaltet das Projekt mit. Durch Befragungen, Diskussionsrunden und Workshops bringen queere Personen ihre Erfahrungen ein und lenken so den Projektverlauf mit. Dabei kann jede*r mitmachen, die oder der etwas beizutragen hat. Auch innerhalb des wissenschaftlichen Teams sind queere Menschen vertreten und bringen ihre Expertise ein.
Ins Leben gerufen wurde TRUST-PALL von Claudia Gamondi, Professorin an der Universität Lausanne und Leiterin der Abteilung für Palliativ- und Supportive Care des CHUV. „Mir war schnell klar, dass wir hier verschiedene Kompetenzen an Bord holen und die LGBTIQ+ Community von Beginn an aktiv einbinden müssen, damit unser Vorhaben Sinn macht.“ Daher hat die Ärztin ein buntes Team zusammengestellt: Palliativmediziner*innen, Pflegefachkräfte, Sozialpsychologinnen mit Forschungserfahrung zu LGBTIQ+ Themen, Expertinnen für partizipative Forschung und für öffentliche Gesundheit. Und vor allem: Queers aller Lebenslagen.
Um zu verstehen, was für diese zählt, verfolgt TRUST-PALL einen partizipativen Forschungsansatz. „Wir forschen nicht über, sondern mit der Community“, betont Gamondi. Dazu greift ihr Team auf die Erfahrungen des Schweizer LGBTIQ+ Panels zurück – ein Forschungsprojekt, das seit 2019 jährlich die Situation von LGBTIQ+ Personen in der Schweiz untersucht.
Schritt 1: Bei den Betroffenen nachgefragt
Das Panel wurde von Dr. Tabea Hässler und Dr. Léïla Eisner, Oberassistierende am Lehrstuhl für Sozialpsychologie der Universität Zürich, gegründet. Sie sind spezialisiert auf LGBTIQ+ Forschung und Teil des Teams von TRUST-PALL. Echte Inklusion aller Teilnehmenden ist für sie zentral. „Mit dem Schweizer LGBTIQ+ Panel verfolgen wir mehrere Ziele“, erklärt Tabea Hässler. „Erstens erheben wir solide Daten über die Integration queerer Menschen in der Schweiz. Das ist wichtig für wissenschaftliche Zwecke, aber für uns zählt vor allem, die Ergebnisse den Betroffenen zurückzumelden. Alle Daten sind daher in Form leicht verständlicher Berichte auf unserer Webseite abrufbar. Und schließlich können wir dank der Erhebung Veränderungen im Laufe der Jahre beobachten und messen, welche Auswirkungen gesellschaftliche Ereignisse haben.“ 2023 haben rund 2500 LGBTIQ+ und 350 cis-heterosexuelle Personen bei der Umfrage mitgemacht, Tendenz steigend. Die Daten werden auch von politischen Entscheidungsträgern für die Gestaltung sozialer und gesetzlicher Maßnahmen herangezogen.
„Als Claudia Gamondi uns kontaktiert hat, waren wir sofort neugierig“, ergänzt Léïla Eisner. Von der Wichtigkeit des Themas überzeugt, haben sie in die Panel-Umfrage 2025 mehrere Fragen zu den speziellen Bedürfnissen der LGBTIQ+ Community in der Palliativpflege aufgenommen. Dabei werden alle Sprachregionen der Schweiz und verschiedene Subgruppen berücksichtigt, um kulturelle und soziale Unterschiede mit einzubeziehen. „Wir wissen, dass es da enorme Unterschiede zwischen einzelnen Gruppen, aber auch ländlichen und städtischen Regionen gibt“, betont Eisner.
Schritt 2: Forschende und Community gestalten gemeinsam
Auf Grundlage der Umfrageergebnisse werden in der nächsten Etappe Diskussionsrunden und Workshops organisiert, in denen konkrete Handlungsempfehlungen von Betroffenen, Forschenden und Gesundheitspersonal gemeinsam erarbeitet werden. Dabei sollen sowohl übergreifende Bedürfnisse verschiedener Gruppen berücksichtigt werden als auch spezielle Anforderungen einzelner Subgruppen – etwa von trans Personen, bestimmten Altersgruppen oder Menschen in unterschiedlichen regionalen Kontexten.
„Die Erkenntnisse fließen direkt in den weiteren Projektverlauf ein“, erklärt Philip Larkin, Professor für Palliativpflege am CHUV und Mitinitiator von TRUST-PALL. Er bringt langjährige Erfahrung aus partizipativen Forschungsprojekten ein. Das dreijährige, vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Projekt will so wissenschaftliche Vorgehensweise mit den realen Bedürfnissen der LGBTIQ+ Community verbinden.
Denn: „Ich höre oft von Kolleg*innen: ‚Wir behandeln alle gleich‘. Damit wollen sie ausdrücken, dass sie niemanden diskriminieren“, berichtet Larkin. „Aber das ist ein Irrglaube. Wer die spezifischen Herausforderungen von LGBTIQ+ Personen nicht kennt, kann sie auch nicht berücksichtigen.“ Tabea Hässler bestätigt das. „Privilegien sind unsichtbar. Das beginnt bei der Art wie eine Frage formuliert wird. Wenn eine Ärztin zu ihrer Patientin sagt ‚Ihr Partner oder Ihre Partnerin‘ statt ‚Ihr Mann‘, dann schafft das Vertrauen und signalisiert ‚OK, ich kann hier offen über meine Lebenssituation reden‘.“ Die Bedeutung von inklusiver Sprache und Symbolik werde von Gesundheitsfachpersonen oft unterschätzt.
Schritt 3: Konkrete Handlungsempfehlungen entwickeln
Daher sollen Fachpersonen am Ende das nötige Wissen und die Werkzeuge erhalten, damit sie den Bedürfnissen queerer Patient*innen angemessen entgegenkommen können. Zentrales Ziel von TRUST-PALL ist die Entwicklung eines „Rainbow Book“: ein praxisorientierter Leitfaden, der dem Gesundheitsfachpersonal konkrete Empfehlungen geben soll.
In mehreren Ländern, wie Irland oder den Niederlanden, gibt es bereits Richtlinien für LGBTIQ+-inklusive Palliativversorgung. In der Schweiz, sowie auch in Österreich, fehlen solche Konzepte bislang.
Ein Projekt mit Signalwirkung?
Das Vertrauen zwischen Patient*innen, ihren Angehörigen und Gesundheitsfachpersonen ist eine zentrale Voraussetzung für gute Palliativversorgung. Doch Vertrauen muss aufgebaut werden – besonders in einer Community, die jahrzehntelang Erfahrungen mit Ausgrenzung, Pathologisierung und mangelnder Sensibilität gemacht hat. „TRUST-PALL will Vertrauen schaffen, indem wir LGBTIQ+ Personen direkt fragen, was ihre Bedürfnisse sind, um so klinisches Personal für einen respektvollen Umgang zu sensibilisieren“, sagt Gamondi.
Auch für die Palliativmedizinerin selbst ist das Projekt ein Lernprozess. „Ich muss mich immer wieder daran erinnern, ‚they‘ zu sagen, wenn es um nicht-binäre Personen geht“, gibt sie zu. „Das ist eine Lernkurve. Aber wir müssen diesen Effort machen. Ich sage meinen Kolleg*innen immer: Korrigiert mich, ich will es richtig machen.“
TRUST-PALL zeigt, wie durch respektvollen und inklusiven Umgang Verständnis geschaffen werden kann. Es bleibt zu hoffen, dass ähnliche Initiativen zukünftig auch in anderen Ländern, wie Österreich, dazu beitragen, die Bedürfnisse queerer Menschen in ihrer letzten Lebensphase angemessen zu berücksichtigen.
Klara Soukup
Wissenschaftsjournalistin