LGBTIQ+ Krebsversorgung
Eine Krebsdiagnose löst bei Betroffenen oft Angst aus. Wenn dazu noch die Unsicherheit kommt, wie das behandelnde medizinische Personal auf eine Person zugeht und ob sich Ärzt*innen und Pflegende mit den Besonderheiten der LGBTIQ+-Community auskennen, kann dies zusätzliche Sorgen hervorrufen.
Die Europäische Gesellschaft für Onkologie (European Society For Medical Oncology, ESMO) scheint sich dessen bewusst zu sein. Gemeinsam mit Kolleg*innen der pädiatrischen Onkologie (Société internationale d’oncologie pédiatrique Europe, SIOPE) hat der Verband beim Gesundheitsfachpersonal in 75 europäischen Ländern nachgefragt, wie es um deren Kenntnisse und Einstellungen im Umgang mit queeren Betroffenen steht. Das Ziel: herauszufinden, was es braucht, damit Fachpersonen besser auf die Bedürfnisse ihrer Patient*innen eingehen können. Die Ergebnisse der Umfrage wurden nun veröffentlicht.
Aufgeschlossen und empathisch
Die gute Nachricht vorweg: Die überwiegende Mehrheit der Umfrageteilnehmenden zeigt sich aufgeschlossen und sensibilisiert. Neun von zehn Befragten geben an, sich im Umgang mit queeren Patient*innen sicher zu fühlen. Und: etwa zwei Drittel sind damit einverstanden, in Adresslisten explizit als LGBTIQ+-freundliche Gesundheitsdienstleistende genannt zu werden. Diese Bereitschaft belegt ein Bewusstsein, dass queere Menschen mitunter andere Bedürfnisse und Anliegen haben als cis-heterosexuelle Personen. Bei trans Betroffenen sieht es ähnlich aus: Laut Befragung fühlen sich acht von zehn Fachpersonen in der Lage, trans Personen adäquat zu behandeln.
Mangelndes Wissen über spezielle Bedürfnisse
Schlechter steht es allerdings um das Wissen medizinischer Fachkräfte über den besonderen Unterstützungsbedarf von LGBTIQ+-Personen. Weniger als die Hälfte der Befragten (44%) fühlt sich gut informiert über die allgemeinen Gesundheitsbedürfnisse von homosexuellen Patient*innen; bei trans Betroffenen ist es nur ein knappes Viertel. Gefragt nach ihrem Verständnis der speziellen psychosozialen Anliegen von LGBTIQ+-Personen zeigt sich ein breites Spektrum: Etwa ein Drittel der Kliniker*innen gibt an, gut informiert zu sein; ein Drittel ist der Meinung, keine ausreichenden Kenntnisse zu besitzen; und ein Drittel antwortet „neutral“.
Erwähnenswert, wenn auch wenig überraschend, ist, dass Befragte, die sich selbst als LGBTIQ+ identifizieren, hier besser abschneiden. Sie fühlen sich allgemein besser informiert über die spezifischen Bedürfnisse der Community – sowohl wenn es um emotionale und soziale Anliegen geht als auch bei medizinischen Besonderheiten. Dazu gehören etwa Unterschiede im Risiko für einzelne Krebsarten aufgrund hormoneller Behandlungen oder Lebensstilfaktoren.
Unsicherheit aufgrund fehlender Ausbildung
Ein ausschlaggebender Moment ist der erste Kontakt. Um auf die Bedürfnisse queerer Patient*innen eingehen zu können, müssen Gesundheitsfachpersonen diese zuerst erkennen. Obwohl mehr als die Hälfte der Befragten es wichtig findet, Genderidentität und sexuelle Orientierung ihrer Patient*innen zu kennen, gibt nur etwa ein Drittel an, diese Fragen beim ersten Beratungsgespräch zu stellen. „Pflegefachkräfte trauen sich oft nicht, sensible Themen wie Genderidentität oder Orientierung anzusprechen, weil sie Angst haben, die betroffene Person durch ungeschickte Wortwahl zu verletzen“, sagt Johan De Munter, Pflegefachmann am Krebszentrum des Universitätsspitals Gent (Belgien) und Mitglied des SIOPE-Komitees für Jugendliche und junge Erwachsene. In seinem Fachbereich, der Hämatologie, ist er selbst viel im Kontakt mit jungen Betroffenen.
Für ihn und seine Kolleg*innen ist es wichtig, Vertrauen zu schaffen: „Wir möchten Patient*innen einen geschützten Raum bieten, in dem sie all ihre Sorgen und Ängste ansprechen können. Nur so können wir die beste Behandlung für jede einzelne Person sicherstellen.“ Doch im Austausch mit Pflegefachpersonen hört De Munter immer wieder, dass mangelndes Wissen, vor allem über die richtige Sprache, eine Hürde im Umgang mit queeren Menschen darstellt. Seine eigene Erfahrung entspricht jener der meisten Befragten der ESMO/SIOPE-Umfrage: „Die Frage ‚Wie gehe ich respektvoll und sensibel mit LGBTIQ+-Patient*innen um?‘ kam in meiner Fachausbildung nie zur Sprache. So geht es vielen, daher fühlen sie sich nicht gut vorbereitet.“
Wunsch nach ausführlicherer Schulung
So sind sich mehr als 75% der Befragten einig, dass die Bedürfnisse von LGBTIQ+-Personen sowohl im Basisstudium als auch in postgradualen Fortbildungen thematisiert werden sollten. Die onkologischen Fachverbände geben daher die Empfehlung ab, entsprechende Themen in die Ausbildungsprogramme aufzunehmen.
Um Fachpersonen mit konkreten Beispielen und Tipps für den Umgang mit Krebsbetroffenen aus der LGBTIQ+-Community sowie anderen gesellschaftlichen Minderheiten zu unterstützen, hat die EU-geförderte Initiative Youth Cancer Europe einen Leitfaden entwickelt. Dieser soll dem Gesundheitspersonal die notwendigen Tools zur Verfügung stellen, um einen respektvollen und vertraulichen Rahmen für Patient*innen zu schaffen. „Das ist eine wertvolle Quelle, damit die Krebsversorgung europaweit inklusiver wird“, findet Johan De Munter, der das Dokument als Pflegeexperte begutachtet hat.
Abschließend betont der Fachmann die Rolle der Forschung, um Bewusstsein und Wissen um die Gesundheitsanliegen der Community zu schaffen: „Um zu wissen, wie wir besser auf spezielle Bedürfnisse eingehen können, müssen wir diese genau kennen. Bei ESMO, SIOPE und dem europäischen Onkologie-Pflegefachverband (European Oncology Nursing Society, EONS) laufen derzeit einige Projekte, die die Anliegen von LGBTIQ+ Krebsbetroffenen genauer erforschen.“
Die Feinheiten der Umfrage im Fokus
Für die Interpretation der Umfrageergebnisse sind einige Eckdaten wichtig: Von mehr als 26.000 ESMO- und SIOPE-Mitgliedern, an die der Fragebogen versendet wurde, beantworteten 672 Personen diesen zumindest teilweise. Die geringe Antwortrate könnte auf Faktoren wie Zeitmangel, fehlendes Bewusstsein für die Relevanz der Umfrage im Alltag der Fachpersonen, oder allgemein mangelndes Interesse an der Thematik zurückzuführen sein. Wie insbesondere die letzten beiden Punkte die erhobenen Daten möglicherweise beeinflussen und schwer verallgemeinerbar machen, sollte nicht unterschätzt werden.
Zu den Antwortenden gilt weiters zu wissen, dass es sich zu mehr als zwei Drittel um Onkolog*innen und Kinderkrebs-Fachärzt*innen handelt – etwa die Hälfte von ihnen im Alter zwischen 30 und 39 Jahren; das liegt am Mitgliederprofil der beiden Verbände. In der Krebsversorgung werden Betroffene aber meist von multidisziplinären Teams begleitet; vor allem Pflegefachkräfte, psychosoziales Personal und unterstützende Therapeut*innen spielen eine Schlüsselrolle. Ihre Ansichten spiegeln sich nicht in den erhobenen Daten wider.
Bezüglich Genderidentität und sexueller Orientierung identifizieren sich die Teilnehmenden – bis auf drei trans Personen – etwa zur Hälfte als (cis) Frauen (45%) oder Männer (54%). Der Großteil (rund 70%) gibt sich als heterosexuell zu erkennen, 14% als schwul, 5% als bisexuell, 3% als lesbisch, 2% als unsicher und 1% als „sonstige“. 30 Personen (5,6%) wollten zu ihrer sexuellen Orientierung keine Angaben machen. Welchen Einfluss die Identität der Befragten auf einige der Antworten hat, wird im Studienbericht an mehreren Stellen erläutert – ein Beispiel ist der weiter oben geschilderte Wissensstand um die Bedürfnisse der Community.
Schließlich sei erwähnt, dass die Umfrage in 75 europäischen Ländern durchgeführt wurde. Landesspezifische soziokulturelle und gesetzliche Faktoren wurden in die Analyse aber nicht einbezogen. „Die politische Lage, aber auch Unterschiede in der Ausbildung des Gesundheitspersonals in verschiedenen Ländern, spielen bestimmt eine Rolle“, meint Johan De Munter. „Ich bin aber zuversichtlich, dass Personen, die im Gesundheitsbereich arbeiten, generell offen und sensibel sind. Politische Trends können die Fortschrittlichkeit des Gesundheitssystems und der Gesellschaft im Allgemeinen gefährden. Trotzdem steht für uns immer die beste Versorgung für jede*n einzelne*n Patient*in im Mittelpunkt – um das sicherzustellen, müssen wir deren individuelle Bedürfnisse kennen und respektieren, egal ob es um Genderidentität, sexuelle Orientierung, Religion oder andere persönliche Umstände geht. Es liegt nicht an uns zu urteilen, sondern zu helfen.“
Text von Klara Soukup, Wissenschaftsjournalistin