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Gesundheit

AIDS 2024

Eine Konferenz mit Emotionen

Ende Juli 2024 fand in MĂŒnchen die Welt-AIDS-Konferenz statt. Neben einigen medizinischen Highlights brachte sie vor allem eine Gewissheit: der Kampf gegen HIV findet lĂ€ngst nicht mehr auf wissenschaftlicher, sondern hauptsĂ€chlich auf gesellschaftlicher Ebene statt.

Diese Lambda-Ausgabe beschÀftigt sich unter anderem mit Themen rund um Glaube und Religion. Als Naturwissenschaftlerin möchte ich zwar nichts dazu schreiben, möchte aber motivieren zu reflektieren, warum welche gesellschaftlichen Dynamiken be- und entstehen. Und wie man damit umgehen muss bzw. kann bzw. möchte. Denn auch im HIV-Bereich sind diese Fragen hochaktuell, wie die Welt-AIDS-Konferenz wieder zeigte. Mich persönlich zerriss sie zwischen Emotionen zu Erfolgen und Ungleichbehandlungen. Mit zwei kurzen Gedanken möchte ich diesen Konflikt veranschaulichen. Welche Rolle Glaube und Religion dabei spielt, stelle ich einfach offen in den Raum.

Welt-AIDS-Konferenz

Die Welt-AIDS-Konferenz stand ganz im Zeichen von Communities, Aktivismus und Gesellschaftspolitik, insbesondere im sogenannten Global Village. Dieses bot neben dem regulĂ€ren Kongressprogramm einen öffentlichen Raum fĂŒr Organisationen und Aktivist*innen. Der Schwerpunkt lag auf den Themen Frauen, Jugend, trans* Personen und Sexwork. Mit unzĂ€hligen VortrĂ€gen, Aktionen und Performances prĂ€sentierten Menschen aus allen Weltregionen und Lebenswelten ihre Arbeit und ihr Engagement. Das Global Village ermöglichte somit auch Menschen ohne Kongressticket, sich international zu vernetzen und aus der Konferenz Information und Motivation zu generieren.

BeÀngstigende HIV-Statistik

Die neue Statistik von UNAIDS (Programm der Vereinten Nationen gegen HIV/AIDS) macht leider Angst: Im Vergleich zum Vorjahr konnte weder die Zahl der HIV-Neuinfektionen noch die der HIV-assoziierten TodesfĂ€lle reduziert werden. 630.000 Personen verstarben 2023 an den Folgen einer HIV-Infektion, das ist mehr als ein Mensch pro Minute. FĂŒr 2023 wird die Zahl der HIV-Neuinfektionen auf 1,3 Millionen geschĂ€tzt. Weltweit kam es jede Woche zu 4.000 Infektionen bei MĂ€dchen und Frauen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren, davon 3.100 in Subsahara-Afrika. WĂ€hrend die globale HIV-PrĂ€valenz bei 0,8 % liegt, wird sie fĂŒr Menschen in der Sexarbeit um 3 Prozentpunkte höher, fĂŒr MĂ€nner, die Sex mit MĂ€nnern, haben um 7,7 Prozentpunkte und fĂŒr trans* Personen um 9,2 Prozentpunkte höher angegeben.

HIV-Epidemie am Wendepunkt

Das UNAIDS-Motto „AIDS AT THE CROSSROADS“ unterstrich, dass wir an einem kritischen Wendepunkt stehen. Das Ziel, die TodesfĂ€lle bis 2025 unter 250.000 und die HIV-Neuinfektionen unter 370.000 zu senken, ist utopisch. Berechnungen ergeben, dass bis 2050 mit weiteren 34,9 Million Neuinfektionen und 17,7 Millionen TodesfĂ€llen zu rechnen ist. Doch auch ein positiver Wendepunkt zeichnet sich ab. Aktuell leben ca. 40 Millionen Menschen mit HIV. Das sind in etwa so viele Personen, wie seit Bekanntwerden der Epidemie verstorben sind. Damit verschiebt sich die statistische Dynamik zu Gunsten der lebenden Menschen mit HIV. Dieser Trend ist allerdings abhĂ€ngig von der TherapieverfĂŒgbarkeit. 2023 fehlte jeder 4. Person mit HIV und damit 9,2 Millionen Menschen der Zugang zu HIV-Therapie.

Lenacapavir als HIV-PrEP – Standing Ovations

Eines der grĂ¶ĂŸten Themen der Konferenz war die PURPOSE-1 Studie, die bei der PrĂ€sentation Standing Ovations erhielt. Sie ist eine von mehreren Studien, in denen Lenacapavir (LEN) als HIV-PrEP in diversen Bevölkerungsgruppen und Settings untersucht wird. LEN ist ein neuer Wirkstoff gegen HIV, der sich u. a. durch eine lange Halbwertszeit auszeichnet, wodurch er lĂ€nger im Körper bleibt und weniger oft eingenommen werden muss. FĂŒr bestimmte Situationen ist LEN in der HIV-Therapie bereits zugelassen, als HIV-PrEP ist LEN erst in Erforschung.

An der Studie hatten ĂŒber 5.300 cis MĂ€dchen und Frauen in 28 Zentren in SĂŒdafrika und Uganda teilgenommen. Eine Gruppe erhielt LEN als Injektion nur zwei Mal pro Jahr, zwei andere Gruppen erhielten eine ĂŒbliche PrEP aus tĂ€glichen Tabletten. 55 HIV-Infektionen mussten registriert wurden. Bei den Frauen mit LEN-PrEP kam es zu keiner einzigen Infektion. In Folge dieser Zwischenergebnisse wurde die Studie abgebrochen und allen Teilnehmerinnen die injizierbare HIV-PrEP mit Lenacapavir angeboten.

HIV-PrEP: Selbstbestimmtes Leben als entscheidender Faktor

Es wurde immer wieder betont, keinesfalls zu unterschĂ€tzen, dass fĂŒr Frauen z.B. in Subsahara-Afrika die tĂ€gliche Tabletteneinnahme eine enorme kulturelle, soziale und emotionale Herausforderung ist. Viele VortrĂ€ge fokussierten auf Lebenswelten von MĂ€dchen und Frauen, denn hĂ€ufig sind selbstbestimmtes Leben und SexualitĂ€t nicht möglich und sĂ€mtliche Lebensbereiche werden von extern dominiert. Das beeinflusst auch die orale PrEP.

Eine Studie in Uganda und Kenia verdeutlichte dies nachdrĂŒcklich. Hier wurden Frauen unterschiedliche Formate einer HIV-PrEP angeboten (Injektionen und Tabletten). Die BegrĂŒndungen, sich fĂŒr die Injektions-PrEP zu entscheiden, sprachen fĂŒr sich: 42 % gaben an, dass sie verhindern wollten, dass jemand die Tabletteneinnahme beobachtet. 22 % berichteten, ihr Partner wĂŒrde eine Tabletteneinnahme nicht zu lassen.

Ein Gedanke dazu

Die Standing Ovations fĂŒr PURPOSE-1 galten also nicht nur der Studie und Lenacapavir als neue langwirksame Substanz selbst. Sie standen zeitgleich fĂŒr die Vision, MĂ€dchen und Frauen grundsĂ€tzlich mehr Optionen und LebensqualitĂ€t anbieten zu können. Immerhin entfallen in dieser Region ca. 60 % aller HIV-Neuinfektionen auf MĂ€dchen und Frauen. FĂŒr mich persönlich mutet es schon eigenartig an, wenn pharmazeutische Forschung mehr die Situation menschengemachter Ungleichbehandlung statt medizinischen Bedarf verbessert. Gibt hier die Gesellschaft einfach Verantwortung ab?

DoxyPrEP – kleine Studie bei MSM

Die Einnahme von Doxycyclin nach einem sexuellen Risikokontakt kann Infektionen mit Chlamydien und Syphilis reduzieren. Und wenn es in der Region wenig Tetracyclin-resistente Tripper-Bakterien gibt, sieht man auch einen Effekt bei der Gonorrhö. WÀhrend diese DoxyPEP bereits breit diskutiert wird, ist das Konzept der DoxyPrEP, also eine vorbeugende tÀgliche Einnahme des Antibiotikums, wenig im GesprÀch. Eine kleine kanadische Studie schaute sich den Effekt der DoxyPrEP bei 52 MSM (MÀnner, die Sex mit MÀnnern haben) an. Verglichen wurde Doxycyclin mit Placebo; AdhÀrenz und sexuelles Verhalten war in beiden Gruppen vergleichbar. Die Inzidenz (statistische Anzahl der Diagnosen bei 100 Personen pro Jahr) unterschied sich deutlich: In der Placebogruppe lag sie bei 120 und in der Gruppe mit DoxyPrEP bei 24.

DoxyPrEP – kleine Studie bei Frauen

Eine japanische Studie befasste sich mit der DoxyPrEP bei cis Frauen, die in der Sexarbeit tÀtig waren.

42 Frauen erhielten eine tĂ€gliche DoxyPrEP. Die Zahl der Syphilis Diagnosen sank mit der DoxyPrEP auf null, bei der Gonorrhö z.B. gab es keine VerĂ€nderung. Wichtig war aber eher, dass jede 3. Frau sagte, sich besser zu fĂŒhlen, da sie weniger Angst vor eine STI hĂ€tte. Die Zahlen geben dem recht: Vor Start der DoxyPrEP lag die STI-Inzidenz bei 233, mit Einsatz der DoxyPrEP sank sie auf ca. 80.

Ein Gedanke dazu

Hier werden Unterschiede in Lebenswelten und Risiken fĂŒr die sexuelle Gesundheit sichtbar. Die STI-Inzidenz der Sexarbeiterinnen in Tokyo ist enorm. Diese Zahlen einer kleinen Studie wĂŒhlen zumindest bei mir das ganze Thema der Doppelmoral in der Sexarbeit innerlich auf. Und die Frage, wie dieser Dienstleistung und ihren Anbieter*innen der adĂ€quate Wert zugeschrieben werden kann? Wie wĂ€re die Sicherheit und Gesundheit von Sexarbeiter*innen zu stĂ€rken? Ein Medikament dĂŒrfte ja wohl kaum die echte Lösung sein.

Mein Fazit zur Konferenz

Es wird auf medizinischer Ebene so viel erreicht und es scheitert dauernd an den Menschen. Daher muss man auch aus naturwissenschaftlicher Sicht darum bitten, immer zu hinterfragen, was man wie in der Gesellschaft selbst mitgestaltet. Denn die sind wir alle – da kann nicht einfach Verantwortung an Forschung und Medizin abgegeben werden.

Von Birgit Leichsenring

Mikrobiologin und biomed. Wissenschaftskommunikatorin (www.med-info.at)