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HIV im Wandel der Zeit

In den letzten vier Jahrzehnten hat sich in Bezug auf HIV/AIDS unfassbar viel verändert. Insbesondere die medizinische Entwicklung der HIV-Therapie darf als Erfolgsgeschichte betrachtet werden. Was hat sich verändert und ist es mit den heutigen Möglichkeiten überhaupt notwendig, den „alten Zeiten“ immer wieder Raum zu geben? Mit einem kurzen Rückblick und Inputs aus vier sehr unterschiedlichen Bereichen, möchte der Beitrag Ansätze für eine Antwort bieten.

HIV-Therapie und ihre Erfolgsgeschichte

Nachdem 1981 die ersten AIDS-Fälle beschrieben wurden, konnte 1983 das HI-Virus als Ursache identifiziert werden. 1984 wurde der erste HIV-Antikörpertest auf den Markt gebracht und 1987 folgte mit AZT die erste antiretrovirale Substanz. Doch weder AZT noch darauffolgende Substanzen brachten den erhofften Erfolg. Erst 1996 gelang der Durchbruch. Drei Aspekte waren hier entscheidend: Die Forschung hatte den Zusammenhang zwischen Virusmenge und Infektionsverlauf gezeigt, es wurde eine neue Substanzklasse verfügbar und Studien zeigten, dass die Kombination unterschiedlicher Medikamente endlich eine deutliche Wirkung erzielte.

Neben der Erforschung von Substanzen selbst, gelang 2007 ein weiterer Meilenstein: Es wurde die erste HIV-Therapie in Form einer kompletten Therapie als 1 Tablette pro Tag verfügbar. Die Einnahme der Therapie wurde einfacher und erleichterte damit den Lebensalltag vieler Menschen mit HIV spürbar. Zusätzlich wurden die Medikamente nicht nur effektiver, sondern vor allem auch besser verträglich. Insbesondere die sogenannten Integrase-Inhibitoren, die 2007 dazu kamen, läuteten eine neue Ära ein: mit wesentlich weniger Nebenwirkungen drücken sie die Viruslast besonders schnell unter die Nachweisgrenze. Im Laufe der Zeit kamen nicht nur mehr Medikamente hinzu, es folgten bahnbrechende Studien zum Einsatz der Therapie. Sie zeigten eindeutig, dass Therapiepausen ungünstig sind, und dass ein früher Therapie-Start mit signifikanten Vorteilen in Bezug auf Sterblichkeit und Erkrankungsrisiko verbunden ist. Auch diese Aussagen haben in allen Behandlungsleitlinien Gültigkeit.

Alle diese Punkte sind essentieller Bestandteil davon, dass heute fast alle Menschen mit HIV, die über die Infektion informiert sind, auch eine Therapie einnehmen, sofern sie verfügbar ist. Und das hat nicht nur für die Menschen persönlich aus gesundheitlicher Sicht große Vorteile, sondern auch Einfluss auf die Zahl der Neuinfektionen und damit Epidemiologie.

Schon seit den 90er Jahren ist bekannt, dass die Übertragungswahrscheinlichkeit direkt proportional mit der Menge der HI-Viren zusammenhängt. Für diesen grundsätzlichen Zusammenhang wurde der Begriff „Treatment as Prevention“ geprägt. Für die sexuelle Übertragung konnte mittels umfassender Studien sogar ein Sonderfall formuliert werden: Liegt die Viruslast dank effektiver Therapie unter der Nachweisgrenze, kommt es auf sexuellem Weg zu keiner Übertragung. Der Slogan „U=U“ für „undetectable equals untransmittable“ ist definitiv als einer der Höhepunkte in der Geschichte der HIV-Therapie zu sehen.

Durch diese medizinischen Entwicklungen ist die Situation heute nicht annähernd mit den Anfangszeiten der HIV-Epidemie zu vergleichen. Die HIV-Infektion wurde von einer tödlichen in eine chronische Erkrankung gewandelt. Die HIV-Therapie kann eine hohe Lebenserwartung mit guter gesundheitlicher Lebensqualität bieten und Übertragungen effektiv verhindern. Sie ermöglicht Menschen mit HIV ein langes Leben voller individueller Perspektiven. Eine Perspektive, die früher nicht im Ansatz vorstellbar gewesen wäre.

Fritz Aull (www.aidshilfen.at)

Als Psychologe arbeitest du seit 1993 bei der AIDS-Hilfe Tirol und hast einen umfassenden Überblick für die Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Wie stehst Du zu dieser langen Zeit?

Tatsächlich sehe ich es als Herausforderung, aber genauso als Privileg, sowohl die erste dramatische AIDS-Zeit als auch danach einen Wandel und eine Normalisierung über die Zeit erleben und mitgestalten zu dürfen. Es ist durchaus ein Geschenk, so lange in einem Bereich zu arbeiten und beobachten zu können, wie sich ein Thema im gesamtgesellschaftlichen Kontext, aber genauso individuell in den Biographien der einzelnen Menschen mit HIV, verändert.

Was hat sich in diesem Wandel denn z.B. für Deine Arbeit geändert?

Mit dem Auftreten von HIV hatten sich ja grundsätzlich Themen wie etwa Schutz, Verhütung und Sexualität prominent etabliert, allerdings eben über Gebühr mit HIV besetzt, ohne viel Platz für andere Aspekte. Durch die verstärkte Normalisierung ist über die Jahre der Blick frei geworden auf andere Themen innerhalb des Spektrums der sexuellen Gesundheit. Das hat auch für die AIDS-Hilfen bedeutet, dass sexuelle Gesundheit breiter zu bedenken ist. Dies gilt für alle Bereiche, wie z.B. Testung, Beratung, Prävention oder auch Öffentlichkeitsarbeit. Unser Angebot hat sich also inhaltlich diversifiziert und erweitert. Dieses Öffnen der inhaltlichen Türen ist wie ein sichtbarer Beweis für die – noch nicht zu Ende geführte – Normalisierung von HIV.

Ist es Deiner Meinung nach für den heutigen Umgang mit HIV wichtig, die Entwicklungen und Hintergründe zu kennen?

Gedenken ist immer in zweierlei Hinsicht zu sehen. Zum einen geht es natürlich um das Gedenken derer, die an HIV verstorben sind. Es geht aber auch enthoben einer persönlichen Geschichte, um ein übergreifendes Gedenken, um ein Phänomen in seiner Historizität zu begreifen. Auch für Menschen, die z.B. erst kurz infiziert sind, ist wichtig zu verstehen, dass die Geschichte von HIV mit allen Bedeutungszuschreibungen nolens volens allen mitvererbt wird. Auch wenn sie jetzt in einer ganz anderen HIV-Situation leben, sie stehen in diesem historischen Bezug. Wir befinden uns ja nicht im luftleeren Raum, es war ein langer Weg bis hier.

Dieses Wissen hilft zu verstehen, warum das Hier und Heute im HIV-Bereich so widersprüchlich ist. Einerseits sind Menschen mit HIV gut behandelbar, haben eine hohe Lebenserwartung, können arbeiten, etc. etc. Aber andererseits muss direkt oder unterschwellig immer wieder wahrgenommen werden, was es bedeutet, HIV-positiv zu sein. Darum ist es mehr als sinnvoll, nicht nur den Status quo anschauen, sondern unbedingt auch die Genese des Phänomens.

Wenn queere Menschen heutzutage an Grenzen stoßen, werden sie ähnlich Erfahrungen machen, wie Menschen mit HIV. Denn trotz scheinbarer Gleichwertigkeit gaukelt unsere Gesellschaft teils mehr vor, als sie bereits ist einzulösen. Und wenn es hart auf hart geht, ist man dann doch der Andere.

Friedl Nussbaumer (www.namesproject.at)

Gemeinsam mit Brigitte Zika-Holoubek hast Du 1992 das Names Project in Österreich initiiert. Welche Rolle hat das Projekt damals für Dich gespielt und ist das Names Project heute in Deinem Leben noch präsent?

Das Names Project war damals für mich überlebenswichtig! Michael, mein Lebensgefährte, ist im Juni 1992 im Alter von nicht mal 27 Jahren an den Folgen von HIV/AIDS auf Annenheim (Anm.: AIDS-Station im Pulmologischen Zentrum Baumgartner Höhe) verstorben. Meinen unfassbaren Schmerz und die große Trauer konnte ich auch durch das Gestalten von Erinnerungstüchern im Names Project bewältigen. Für den geliebten verstorbenen Menschen selbst ein künstlerisches Zeichen der Liebe setzen zu können, das war schon sehr schön und sehr heilsam. Ich erinnere mich, wie wir uns in der Schneiderwerkstatt an die Verstorbenen erinnert haben, wie wir geweint, gelacht und uns gemeinsam unterstützt haben. Mutig und stolz haben wir unsere Erinnerungstücher dann öffentlich präsentiert und wohl dazu beigetragen, dass sich der Umgang mit HIV/AIDS in Österreich verbessert hat. Die Grundidee des Names Project, die mich nach wie vor fasziniert, ist, mit Liebe gegen Diskriminierung und Ausgrenzung anzukämpfen. Und das hat wunderbar funktioniert. Nach mehr als 30 Jahren seit der Gründung in Österreich hat sich die Funktion des Names Project natürlich geändert. Dank der Entwicklung effektiver HIV-Therapien melden sich seit vielen Jahren kaum mehr Leute, die für „ihre“ Verstorbenen Gedenktücher erstellen möchten. Dennoch ist es für mich wichtig, die Erinnerung am Leben zu erhalten. Das machen wir, indem wir uns zum Beispiel alljährlich am AIDS-Memorial-Day beteiligen und unsere Tücher dort aufbreiten.

Hat Trauerarbeit bzw. Gedenken Deiner Meinung nach in der schnelllebigen Welt heute noch ausreichend Platz?

Ich fürchte eher nicht. Aber man kann die Sache ja selbst in die Hand nehmen. Meine Mutter ist vor zwei Jahren an den Folgen einer Covid-Infektion verstorben. Lyrik ist für mich unendlich tröstlich. Daher schick ich meinen Lieben seither monatlich zum Todestag meiner Mutter ein von mir sorgfältig ausgewähltes Gedicht. Wenn so ein Text, der mich zutiefst berührt, auch bei anderen ähnliches bewirkt, ist das ein wunderbares Gefühl.

Mitunter hört man ja die Aussage, dass man nicht auf die Vergangenheit fokussieren, sondern in die Zukunft sehen soll. Kann man da unterschieden bzw. ist Erinnern für Dich ein positiver Prozess?

Na ja, was wäre die Zukunft ohne die Vergangenheit? Wichtig ist für mich, aus der Vergangenheit das Schöne und Wesentliche für die Gegenwart und Zukunft zu bewahren. Bei vielem, das mich heutzutage beschäftigt, denke ich: Was hätte Michael dazu gesagt; wie hätte er sich verhalten? Das hilft; meistens. Und es berührt, immer noch.

Judith Hutterer (www.aidsgesellschaft.at)

Du bist seit Beginn der AIDS-Krise in den 80er Jahren als Ärztin in das Thema HIV involviert. Wie war das am Anfang für Dich?

Damals gab es nichts. Wir mussten zusehen, wie so viele junge Männer an AIDS gestorben sind, ohne dass wir etwas tun konnten. Es gab keine Diagnostik, keine Therapie, wir kannten die Ursache der Krankheit nicht oder wie sie verbreitet wird. Außerdem schienen anfangs nur schwule Männer betroffen zu sein. Anhand der Patienten wurden unterschiedliche Ursachen vermutet: Poppers, Lebensstil, Verunreinigungen… Da kam mein Professor zu mir und sagte: „Es gibt eine neue Krankheut, die können nur Männer bekommen. Hutterer, machen Sie das!“ 1981 habe ich dann meinen ersten Patienten gesehen. Zu der medizinischen Ohnmacht, kam also noch eine massive Diskriminierung – es war eine entsetzliche Zeit.

Spielt die Erinnerung an diese Zeiten eine Rolle?

Ja schon. Denn bei vielen Menschen ist immer noch der Gedanke verankert, es handle sich um eine Krankheit in der Schwulen- und der Drogenszene. Dabei kann HIV alle Menschen betreffen. Aus dieser ersten Zeit stammt ein Großteil der Diskriminierung gegenüber Menschen mit HIV. Auch heute habe ich Patient*innen, die sich nicht trauen, offen über ihre Infektion zu reden – zum Teil aus berechtigter Furcht, dadurch Ausgrenzung zu erfahren. Die Zeiten von damals beeinflussen ganz klar die Situation von Menschen mit HIV bzw. den Umgang mit HIV heute.

Ist das Wissen um die HIV-Geschichte im medizinischen Setting wichtig?

Heute können wir HIV ausgezeichnet behandeln. Trotz dieser Entwicklung ist es für uns in der Medizin durchaus wichtig, auch an die früheren Therapien zurück zu denken und über diverse Entwicklungen Bescheid zu wissen. Denn wir betreuen ja auch Menschen, die schon damals mit den ersten Medikamenten angefangen haben. Um etwa potenzielle Langzeitauswirkungen oder z.B. mögliche Resistenzen in der aktuellen Behandlung zu beachten, muss man sich mit der Therapieentwicklung beschäftigen. Und es ist wichtig, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen, um zu verstehen, wie Patient*innen mit dem Thema HIV umgehen, wie es ihnen geht und wie man sie bei Bedarf unterstützen kann. Die Erfahrungen und das Wissen über die Geschichte hat also auch Einfluss auf meinen heutigen Alltag als HIV-Ärztin.

(Anmerkung: Formulierungen wurden zum teils aus einem Interview mit J. Hutterer im WINA-Magazin 2015 übernommen)

Wiltrut Stefanek (www.pulshiv.at)

Du gehörst zu den wenigen Menschen in Österreich, die seit vielen Jahren offen mit HIV leben. Was hat sich für Dich persönlich geändert – gehen Menschen heute z.B. anders auf Dich zu als früher?

Da ich kein Doppelleben führen will, habe ich mich nach meiner Diagnose 1996 bewusst dazu entschieden, offen mit meiner HIV-Infektion im persönlichen und beruflichen Umfeld zu leben. Aber ganz ehrlich muss ich heute sagen, dass es früher in gewissen Situationen leichter war darüber zu reden als heute. Die Reaktionen waren in den vergangenen Jahren durchaus positiv und haben mich in meiner Entscheidung immer wieder bestärkt. Doch durch die momentanen Entwicklungen überlege ich mir heute sehr wohl, ob es Sinn macht meine Infektion in gewissen Situationen anzusprechen bzw. zu erwähnen. Natürlich werde ich immer wieder auf meine Infektion angesprochen und es entstehen oft interessante Gespräche. Leider haben noch viele Menschen die alten Bilder von HIV in Ihren Köpfen und durch fehlende Informationen existieren auch noch nach über 40 Jahren Ängste und Vorurteile. Die gesellschaftspolitischen Entwicklungen hinken den medizinischen hinterher. Von einer Normalität im Umgang mit HIV sind wir noch weit entfernt.

Durch Deinen Aktivismus leitest Du seit vielen Jahren den Verein PULSHIV. Wie sieht Selbsthilfe heute aus?

Die moderne Therapie macht es möglich, dass wir ein nahezu „normales“ Leben führen können. Das Selbsthilfeangebot hat sich natürlich diesen Fortschritten angeschlossen und weiterentwickelt. Doch viele von uns brauchen auch heute die Selbsthilfe, denn sie kann eine wichtige Säule im Leben mit HIV sein. Sie steht unter anderem für Erfahrungsaustausch, Information, Aufklärung, Akzeptanz, Selbstbewusstsein fördern und Entstigmatisierung. Wir wollen Vorurteile, Ängste und Diskriminierung in der Gesellschaft abbauen. Daher ist es wichtig, dass immer wieder Menschen mit HIV sichtbar werden, offen über Ihre Infektion reden und HIV ein Gesicht geben. Denn niemand kennt das Leben mit HIV so gut wie wir.

Selbsthilfe bedeutet unter anderem auch, Probleme selbst in die Hand zu nehmen und im Rahmen der eigenen Möglichkeiten aktiv zu werden. Im Verein PULSHIV tauschen Betroffene und deren Angehörige ihre Erfahrungen, Informationen sowie ihre persönlichen Strategien im persönlichen und beruflichen Umgang mit der Infektion aus. Oft ist es hilfreich und entlastend sich im geschützten Rahmen auszutauschen und neue Perspektiven zu erleben.

Dieses Jahr findet nach einer Corona Pause wieder eine Gedenk-Veranstaltung beim AIDS Memorial im Wiener Prater statt. Was bedeutet das für Dich?

Ich habe sehr viele Freunde*innen verloren und ich merke immer wieder, wie wichtig es mir ist, die gemeinsamen Erinnerungen lebendig zu halten. Es vergeht kein Tag wo ich nicht an meine besten Freund*innen denke, die den Kampf viel zu früh verloren haben. Die Trauer begleitet mich spürbar und jedes einzelne Schicksal hat mich berührt und seine Spuren hinterlassen.

Beim AIDS Memorial gedenken wir gemeinsam an alle Menschen mit HIV die verstorben sind und legen für jeden einzelnen eine Rose sowie einen Gedenkstein mit deren Namen nieder. Denn wirklich tot sind nur jene, an die sich niemand mehr erinnert …

Von Birgit Leichsenring

Mikrobiologin und biomed. Wissenschaftskommunikatorin (www.med-info.at)