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Gedenken, Erinnern und kein Vergessen

Am 8.November ist der Intersex Day of Remembrance, auch bekannt als Intersex Solidarity Day. Dieser Tag wurde 2005, angestoßen durch Joëlle-Circé Laramée von OII (Organisation Intersex International), von Organisationen, Gruppen, Aktivist*innen und Individuen zum Anlass genommen, um auf das Leben von Herculine Adélaïde Barbin (einer intergeschlechtlichen Person in Frankreich, November 8, 1838 – Februar 1868), später bekannt unter dem Namen Abel Barbin, und auf die noch immer praktizierten Menschenrechtsverletzungen an intergeschlechtlichen Menschen aufmerksam zu machen.

An diesem Tag erinnern wir uns der Geschichte und machen auf die heutigen Missstände aufmerksam. Wenn wir in der Geschichtsschreibung von dieser Zeit ein wenig nach vorne schauen, wird das Gedenken schon etwas schwieriger. Wo sind all die Inter* aus der NS-Zeit hin? Wo sind die Menschen, aber auch die Dokumente, Zahlen und Fakten hin? Wo sind die historischen Aufzeichnungen?

Die Soziologin Dr. Ulrike Klöppel beantwortet diese Fragen in „ Intersex im Nationalsozialismus“ so: „Ein grundsätzliches Problem der bisherigen Forschung ist, dass sie auf Analysen der medizinischen Literatur beschränkt ist. Medizinischen Publikationen allgemein muss hinsichtlich ihres Aussagewerts für die konkrete Praxis mit Skepsis begegnet werden, da mit Auslassungen, Verschweigen und Beschönigungen zu rechnen ist. Auf dieser Grundlage kann die Frage, ob Praktiken wie unfreiwillige (oder auf extremen äußeren Druck formal freiwillige) kosmetische Genitaloperationen, Zwangssterilisierungen, Eheverbote oder missbräuchliche Medizinversuche systematisch durchgeführt wurden, nicht beantwortet werden. Ein wichtiger Beitrag zur Klärung wäre eine Untersuchung der Karteien von Gesundheitsämtern, um herauszufinden, in welchem Ausmaß intergeschlechtliche Neugeborene oder Erwachsene durch Hebammen und Ärzte wegen des Verdachts auf schwere Erbkrankheit angezeigt wurden, zumal 1939 die Meldepflicht auf schwere Missbildungen ohne Vorliegen einer Erbkrankheit ausgeweitet wurde. Die Meldungen waren die Grundlage für die sogenannte Kindereuthanasie, der mehr als 5000 Kinder zum Opfer fielen.“

Erinnern wir uns daran, dass es immer schon Menschen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale gegeben hat. Erinnern wir uns daran, dass an der binären Klassifikation in „weiblich“ und „männlich“ die moderne Medizin wesentlich beteiligt war/ist, körperliche Mehrdeutigkeit als Abweichung stigmatisiert und „gesunde“ Körper zu „kranken“ Körpern macht. Intergeschlechtliche Menschen sind per se nicht krank. Sie werden durch nicht-konsensuelle, medizinisch nicht notwendige Eingriffe oft daran gehindert, ein selbstbestimmtes, medizin-unabhängiges Leben zu führen. Inter* ist ein Oberbegriff für alle Menschen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale. Viele Menschen wissen unter anderem auf Grund der Vielzahl von Einzeldiagnosen nicht, dass sie Inter* sind.

Ein kurzer Blick auf die Homepage von Var.Ges (www.varges.at) lohnt sich!

Erinnern wir uns an die unermüdliche Arbeit von intergeschlechtlichen Aktivist*innen, auf die Missstände hinzuweisen, aufzuklären und Sichtbarkeit zu schaffen. In der jüngsten Geschichte wurden viele Artikel geschrieben, Interviews gegeben, Tagungen abgehalten, Workshops gegeben, Filme gedreht, und vor allem wurde die Politik mehrfach darauf aufmerksam gemacht, endlich die Menschenrechtsverletzungen an intergeschlechtlichen Menschen mit einem Gesetz zu unterbinden.

Wir haben auch nicht das Jahr 2021 vergessen. In diesem Jahr hatte eine breite Mehrheit der Parlamentsparteien einen Entschließungsantrag zum Schutz intergeschlechtlicher Kinder beschlossen. Bis heute warten wir auf ein entsprechendes Gesetz. Wann wird der Schutz der körperlichen Integrität und Selbstbestimmung von intergeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen bestmöglich gewährleistet?

Wann, wenn nicht jetzt?

Und wenn der Rechtsruck und der faschistische Populismus in diesem Land bei den nächsten Wahlen wieder Einzug hält? Was dann?

Magdalena Klein ist Vize-Obmensch von VIMÖ, Peer-Berater*in und Bildungsreferent*inbei Var.Ges, Schauspieler*in und freie Theaterschaffende.
www.vimoe.at

Von Gastautor*in

Unter diesem Tag versammeln sich verschiedene Gastautor*innen der LAMBDA.