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Vergessene Erinnerung

Lesbische Geschichte während des Nazi-Terrors

Geschichten des Widerstands, Überlebens und der Liebe. Geschichten, die der Geschichtsschreibung zum Opfer gefallen sind. Die folgenden Worte sollen jenen gewidmet sein, die der Nazityrannei ausgeliefert waren. All jenen, deren Existenz in Geschichtsbüchern nicht auftauchen, doch ihre Taten und Worte diese dokumentieren. Leider nicht zur Gänze, denn blinde Flecken gibt es vor allem bei lesbischen Personen. Genau deshalb sollen sie jetzt vor den Vorhang geholt werden.

Sie mussten mitansehen wie Freund*innen, Familienangehörige und Nachbar*innen schikaniert, deportiert und ermordet wurden. Sie mussten um ihr eigenes Leben bangen, ihre Liebe und sich selbst verstecken. Die Trauer, Wut und Angst trugen sie alle in ihren Herzen und gebaren daraus die Courage und den unermüdlichen Willen zu überleben. Woraus Hoffnung in dieser unmenschlichen Zeit geschöpft wurde, mag für viele ein Rätsel sein. Doch die Hoffnung war da und mit ihr die erhobene Faust, die sich dem ausgestreckten Arm entgegenstellte, die erhobene Stimme, die für diese Unmenschlichkeit noch Worte fand und gesammelte Erlebnisse, die sich entschieden dagegen wehrten, vergessen zu werden.

All ihre Namen sollen die Jahrhunderte überdauernd laut hörbar bleiben.

Während fast allen die Namen Sophie Scholl oder Anne Frank etwas sagen, gibt es einige, die in Vergessenheit geraten sind. Einer dieser Namen gehört Ruth Maier, deren Geschichte im Text von Petra M. Springer in dieser Ausgabe erzählt wird. Sie wurde 1942 von den Nazis ermordet. Im Jahr 2007 wurden ihre Tagebücher veröffentlich, die uns durch die Brille einer klugen jungen jüdischen lesbischen Frau in den 1930er und 40er Jahren blicken ließ.

Erinnerungen an lesbische Geschichte während der NS-Zeit findet sich bei dem genderqueeren jüdischen lesbischen Künstler*innen-Paar Claude Cahun und Marcel Moore. Beides sind selbst gewählte Namen, mit denen sie die Komplexität von Identität und Geschlechtszuschreibung thematisieren wollten. In Cahuns Autobiografie steht dazu: „Männlich? Weiblich? Das hängt von der Situation ab. Das einzige Geschlecht, das immer zu mir passt, ist neutral.“ Deren Arbeiten über Nicht-Binärität und das Aufbrechen von Geschlechterrollen durch surrealistische Kunst, war ihrer Zeit voraus. Als in den 1930er Jahren Nazideutschland mit ihren Truppen Frankreich überfiel, mussten sie ihre Heimat Paris verlassen. Sie wanderten auf die Insel Jersey, die zwischen England und Frankreich liegt. Aber auch die neue Heimat bat keine Sicherheit, denn 1940 marschierten auch dort die Nazis ein und besetzten die Insel. Diesmal blieb das Paar aber und leistete aktiven Widerstand gegen die brutale Tyrannei.

In deren Überzeugung als Kommunist*innen verwendeten sie Plakate, Fotomontagen und unzählige Flugblätter als Waffen, um gegen die brutale Unterdrückung anzukämpfen. Die Nazi-Besatzer gerieten unter Druck, als vermeintliche Desertationsaufrufe, unterzeichnet von „Soldaten ohne Namen“, von Kirchen, Autos und Polizeiwägen prangten. Dieser Widerstand sollte nicht unentdeckt bleiben, denn die beiden wurden 1944 von Unbekannten verraten und daraufhin von den Faschisten inhaftiert und zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde folgendermaßen begründet: „Auch wenn sie geistige Waffen verwendet haben anstatt Feuerwaffen, handelt es sich um ein sogar schwereres Verbrechen. Bei Feuerwaffen weiß man sofort, welcher Schaden begangen worden ist, aber bei geistiger Brandstiftung weiß man nicht, wie weit sie reicht.“.

Zehn Monate verbrachten Claude und Marcel in Haft und unternahmen in dieser Zeit mehrere Suizidversuche, die aber nicht gelingen wollten. Diese Zeit verlangte ihren Tribut und fügte ihnen enormen gesundheitlichen Schaden zu – vor allem war es Claudes Körper, der die Strapazen nicht wegstecken konnte. Als die Alliierten über Nazideutschland siegten, wurden die beiden aus der Haft entlassen und von ihrem Todesurteil begnadigt. Doch das dort erfahrene Leid sollte ihr restliches Leben überschatten. Während der Zeit der Inhaftierung wurde deren Kunst zerstört und die gesamte Wohnung auseinandergenommen. Auch der gesundheitliche Zustand Cahuns verbesserte sich nie und wurde bloß immer schlimmer. So erlag sie 1954 den Nachwirkungen der Nazi-Gewalt während der Zeit in Haft. Ein Schicksal, das Marcel niemals wirklich verkraften konnte und schließlich 1972 Suizid begann. Beide wurden nebeneinander begraben. Queere Menschen wie sie sollten nicht bloß als Opfer des Nazi-Regimes gesehen werden. Sie wehrten sich und nahmen die Unmenschlichkeit dieser Zeit nicht einfach nur hin. Sie waren Widerstandskämpfer*innen und als solche sollten sie auch in die Geschichte eingehen.

Für einen der größten und wichtigsten Angriffe gegen die deutsche Besatzung war die niederländische und lesbische Cellistin Frieda Belinfante mit der Widerstandsgruppe CKC verantwortlich. Der Anschlag gegen das Amsterdamer Einwohner*innen-Meldeamt zerstörte 800.000 Identitätskarten von Juden und Jüdinnen, ebenso wie das jener von nicht jüdischen Personen. Zuvor organisierte sie ein Netzwerk aus Kunstschaffenden, das Menschen mit gefälschten Ausweisen versorgte, um sie von der Verfolgung der Gestapo zu schützen. Mitglieder der CKC wurden kurz nach dem Anschlag festgenommen und hingerichtet. Belinfante, verkleidet als Mann, tauchte für drei Monate unter und floh schließlich zu Fuß über die Alpen in die Schweiz.

Nachdem der Nazi-Tyrannei ein Ende gesetzt wurde, kam sie zurück in die Niederlande. Ein Ort, den sie mit Mut und Widerstand gefüllt hatte. Denn auch schon vor dem Anschlag widersetzte sie sich den Nationalsozialist*innen und organisierte 1942 ein letztes öffentliches Konzert vor jüdischem Publikum. Das war verboten und hätte ihr ihr Leben kosten können. Denn seit der Besetzung gab die niederländische Kulturkammer vor, dass alle Kunstschaffenden eine „Arier-Erklärung“ vorlegen müssten. Als Tochter eines jüdischen Vaters und einer nicht-jüdischen Mutter hätte sie eine Ausnahmegenehmigung beantragen können. Aber diesen Vorteil, den viele nicht hatten, wollte sie bewusst nicht nutzen. Sie leistete damit nicht nur einen Akt der Solidarität, sondern setzte auch ein Zeichen eines unbeugsamen humanistischen Willens. Nicht nur ihr Widerstand sollte in die Geschichtsbüchern eingehen, sondern auch ihr musikalisches Schaffen. Mit gerade einmal 17 Jahren leitete sie mehrere Ensembles. Sie war auch die erste Dirigentin Europas, die ihr eigenes Orchester gründete. Gemeinsam mit anderen Frauen gründete sie die Künstlervereinigung „Kunst voor Allen“ (Kunst für alle). Während ihrer Zeit in der Schweiz nahm sie an einem Dirigierwettbewerb teil und gewann diesen auch als einzige Frau.

Als sie dann 1947 in die USA emigrierte, setzte sie in Kalifornien ihr musikalisches Schaffen fort. Sie gründete und dirigierte die Orange County Philharmonic Society, die große Anerkennung erhielt. Aber die Gerüchte um ihre Homosexualität führten zu ihrer Entlassung im Jahr 1962. Erst 15 Jahre später erhielt sie Anerkennung für ihr musikalisches Schaffen und es wurde der „Frieda Belinfante Day“ zu ihren Ehren ausgerufen. 1994, ein Jahr vor ihrem Tod, wurde sie für das United States Holocaust Memorial Museum interviewt. Ihr Leben wurde 1999 unter dem Titel „But I was a girl: The story of Frieda Belinfante” veröffentlicht.

Die Leben derer, von denen hier die Rede ist, zeigen uns einmal mehr, wie wichtig eine vollständige Erzählung ist, die die Stimme aller beinhaltet. Lesbische Erfahrungen und Beziehungen waren ein bedeutsamer Teil des Widerstands. Das vollständige Bild, das wir uns zu machen vermögen, setzt die Existenz vollständiger Erzählungen voraus. Diese wiederum helfen uns dabei, das Unverständliche zu verstehen und ein tiefes Verständnis für das für das Schicksal dieser Menschen zu erlangen. Es muss uns aber auch klar sein, dass noch viele Geschichten darauf warten, erzählt zu werden. Viele Opfer sind nach wie vor unsichtbar und sie warten darauf von uns entdeckt zu werden. Sie warten darauf, dass man sich an sie erinnert.

Durch unseren Einsatz für eine vollständige Erzählung der Geschichte lesbischer Frauen in der NS-Zeit, wollen wir nicht nur das unglaubliche Leid und die unvorstellbaren Kämpfe der Vergangenheit sichtbar machen und ins Gedächtnis rufen. Wir leiten daraus einen gesellschaftlichen Auftrag lesbische Lebensrealitäten umfassend und inklusiv festzuhalten und wiederzugeben. Denn die Vergangenheit hinterlässt unsichtbare Spuren, die bis in die Gegenwart spürbar sind. Nur durch Erzählungen lesbischer Existenz in all ihren Facetten, schafft man Sichtbarkeit und sorgt dafür, dass niemand mehr im Schatten vergessen wird.

Gazal für den Lesben*Rat

Von Gastautor*in

Unter diesem Tag versammeln sich verschiedene Gastautor*innen der LAMBDA.