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Eine lesbische KZ-Überlebende

Das wundersame Leben der Margot Heumann

Margots Geschichte ist das erste Zeugnis einer queeren Frau, die als JĂŒdin den Holocaust ĂŒberlebte. Die lesbische Geschichte ist schwierig zu erforschen – unsichtbar und zugleich als unwichtig angesehen. In den Konzentrationslagern begegnete den lesbischen Frauen die Homophobie der anderen HĂ€ftlinge. Deren Vorurteile bestanden in der Nachkriegsgesellschaft fort, sodass die wenigen queeren HolocaustĂŒberlebenden ihre Geschichten kaum jemals festhielten. Die wenigen Ausnahmen sind bisher allesamt MĂ€nner. Margots Stimme ist einzigartig, fĂŒr die Holocaustforschung, fĂŒr Frauengeschichte und fĂŒr queere Studien zugleich.

Margot wurde 1928 geboren, Tochter von Karl und Johanna Heumann in Hellenthal an der belgischen Grenze. 1937 zogen die Heumanns nach Bielefeld, wo der Vater fĂŒr den Hilfsverein der deutschen Juden arbeitete. Als Margot in der Schule als JĂŒdin ausgegrenzt wurde, schickten ihre Eltern sie auf eine jĂŒdische Schule.

FrĂŒh entdeckte Margot, dass sie sich zu MĂ€dchen hingezogen fĂŒhlte. Schmunzelnd erzĂ€hlt sie von ihrer besten Freundin: Als diese in die PubertĂ€t kam und einen engen Pullover mit einer Einstecktasche in Busenhöhe trug, steckte Margot gerne ihre Hand in die Tasche und erklĂ€rte, wie sehr ihr gerade diese Tasche gefalle. „Sie war nicht lesbisch. Sie hat geheiratet und soweit ich weiß, hatte sie keine weiteren Beziehungen mit Frauen.“ Geredet haben die beiden darĂŒber nie.

Ab September 1941 mussten Margot und ihre Familie den gelben Stern tragen, kurz darauf begannen die Deportationen. Die Heumanns wurden im Juni 1943 ins Ghetto Theresienstadt gebracht. Dort wurden Kinder in Jugendheimen untergebracht, mit gehaltvollerem Essen und einer minder ĂŒberfĂŒllten Unterkunft. Da die Kinder nach Geschlecht, Alter und Sprache getrennt untergebracht wurden, kamen Margot und ihre Schwester in zwei unterschiedliche Heime.

TagsĂŒber „beste Freundinnen“

In ihrem Heim lernte Margot Dita Neumann kennen, ein hĂŒbsches Wiener MĂ€dchen. Die beiden wurden unzertrennlich. Nachts legten sie sich ins Bett und tauschten ZĂ€rtlichkeiten aus. „Wir hatten nicht eigentlichen Sex. Sehr nah daran, aber keinen Sex.“ TagsĂŒber galten Margot und Dita einfach als beste Freundinnen, und Dita hatte auch einen Freund. „Ich war eifersĂŒchtig“, erzĂ€hlt Margot, „aber es gab nichts, was ich daran hĂ€tte Ă€ndern können, und ich tat es auch nicht. Damals war ich schon klug genug, keinen Aufruhr zu machen.“ Bereits mit 15 Jahren wusste Margot, dass ihre Liebe keinen Platz in der Öffentlichkeit hat. Dabei teilten auch andere MĂ€dchen nachts das Bett, erzĂ€hlt Margot. Einige von ihnen ĂŒberlebten und berichteten in ihren Memoiren von ihren „besten Freundinnen“, unterschlugen jedoch Liebe und IntimitĂ€t. Margots Einblick erinnert uns, dass wir den queeren Blick auf Teenagerfreundschaften im Holocaust nicht außer Acht lassen sollten.

Damals lernte Margot auch ihre andere große Leidenschaft kennen, die Oper. Das Kulturleben in Theresienstadt war eine wichtige seelische StĂŒtze fĂŒr die HĂ€ftlinge und ist zu Recht heute bekannt. Margots erste AuffĂŒhrung war die TheresienstĂ€dter La BohĂšme. Margot leuchtet auf, wenn sie erzĂ€hlt, wie sie damals die Arie „Wie eiskalt ist dies HĂ€ndchen/Laßt, ich mache es Euch warm“ zum ersten Mal hörte.

Im Mai 1944 wurden die Heumanns nach Auschwitz deportiert, in das sogenannte TheresienstĂ€dter Familienlager. Den ganzen Weg nach Auschwitz weinte Margot – weil sie von Dita getrennt war. Einige Tage spĂ€ter trafen auch Dita und ihre Tante ein. Margot war glĂŒcklich – in Auschwitz. Anfang Juli wurde das Familienlager aufgelöst. Die meisten Menschen dort wussten mittlerweile um die Gaskammern und damit auch um die Bedeutung der anstehenden Selektion, in der die als arbeitsfĂ€hig erachteten Menschen zur Zwangsarbeit ausgewĂ€hlt wurden. Dita und ihre Tante „bestanden“ die Selektion. Margots Eltern versuchten es gar nicht erst, da sie Margots dreizehnjĂ€hriger Schwester keine Chance gaben. Margot beschloss, Dita zu folgen. Ihre Mutter war sehr aufgebracht: Sie meinte, die Familie solle zusammenbleiben. Als Margot von ihrem Vater Abschied nahm, segnete er sie. Sie sah ihn das erste Mal weinen. Damals waren all ihre Gedanken bei Dita. Heute weint Margot, wenn sie davon erzĂ€hlt. Im Frauenlager in Birkenau wurden Margot und Dita fĂŒr einen Transport nach Hamburg eingeteilt, in die Außenlager des KZ Neuengamme.

Ausgehungert und geschwÀcht

Die jĂŒdischen Frauen aus Auschwitz waren dort die ersten weiblichen HĂ€ftlinge. Sie waren ausgehungert und geschwĂ€cht, mussten TrĂŒmmer beseitigen und NotunterkĂŒnfte fĂŒr ausgebombte Zivilisten bauen, fast immer draußen im Freien und mit langen Arbeitstagen. Margots Gruppe durchlief drei Lager: Dessauer Ufer im sogenannten Freihafen, Neugraben im SĂŒden und Tiefstack im Osten Hamburgs.

Hier zeigte sich, wie das Alter die Lagererfahrung prĂ€gte. WĂ€hrend die Ă€lteren Frauen ebenso unter dem rohen Lagerumgang wie unter Hunger und KĂ€lte litten, erlebten die 16-jĂ€hrigen MĂ€dchen das Lager auch als Abenteuer: Sie sammelten Pilze im nahen Wald und rollten sich durch frischgefallenen Schnee einen HĂŒgel hinab. Sie hatten zwar Hunger, fanden aber immer Wege, etwas Essbares zu ergattern, das sie miteinander teilten. Dita war Margots Ein und Alles. Die beiden sicherten sich ein Bett am Ende der Baracke, wo sie nachts zusammen sein konnten. Aber die queere Beziehung störte, „Das ist nicht normal.“ Ditas Tante verteidigte sie: die beiden seien noch Kinder.

Margot wog nur noch 35 Kilo

Anfang April 1945 löste die SS die Außenlager auf und schickte die jĂŒdischen Frauen nach Bergen-Belsen. „Die Toten waren an beiden Seiten der Straße baumhoch aufgestapelt. Es war einfach unglaublich.“ Als die britische Armee am 15. April das Lager befreite, war Margot an Typhus erkrankt und wog nur noch 35kg. Sie lag zwei Monate im Krankenhaus und wurde im Juli nach Schweden gebracht, um sich zu erholen. Dita blieb zurĂŒck und ging spĂ€ter nach England.

Margot verbrachte zwei Jahre in Schweden. Sie erholte sich, lernte Schwedisch und konnte das erste Mal so etwas wie ein „normales“ Teenagerleben fĂŒhren. Sie ging zur Schule – und hatte auch zum ersten Mal Sex mit einer schönen blonden groß gewachsenen Schwedin. 1947 zog sie in die USA zu ihren Verwandten. Eigentlich wollte sie nur ein Jahr bleiben, aber das lesbische Leben in New York zog sie in ihren Bann. Margot begann, bei einer Werbeagentur zu arbeiten. Und sie lernte Lu Burke kennen, eine Intellektuelle und legendĂ€re Lektorin fĂŒr den „New Yorker“.

Nach drei Jahren beschloss Margot, dass sie Kinder haben wollte. Den einzigen Weg dorthin sah sie in einer Ehe mit einem Mann. Sie trennte sich im Guten von Burke und heiratete 1953 einen Kollegen aus einer anderen Agentur. Die nĂ€chsten zwanzig Jahre in Margots Leben mögen oberflĂ€chlich wie der All American Dream erscheinen. Sie bekam zwei Kinder, lebte in einem Haus in Brooklyn und konnte dank einer Schwarzen HaushĂ€lterin ihre Karriere weiterverfolgen. Parallel hatte Margot eine AffĂ€re mit einer Nachbarin; die EhemĂ€nner hielten die Frauen fĂŒr beste Freundinnen.

Mit 88 Jahren outet sie sich

Auf die Frage, ob ihr Mann etwas merkte, betont Margot: „Ich bin eine sehr gute Schauspielerin.“ Erst als ihr Mann sie in den 1970ern zu misshandeln begann, verließ Margot ihn. Einen bewussten Neuanfang wagte sie erst mit 88 Jahren: Sie outete sich gegenĂŒber ihrer Familie. Niemand war ĂŒberrascht: Alle hatten es schon immer gewusst.

Warum hören wir diese erste lesbische Stimme einer HolocaustĂŒberlebenden erst 2020? Margot wurde mehrfach fĂŒr Holocaustarchive interviewt. Die Geschichte, die sie mir erzĂ€hlt hat, war in all ihren Zeugnissen in den bekannten Holocaustarchiven enthalten – aber versteckt. Dita erschien als die „beste Freundin“. Niemand hinterfragte, warum sie fĂŒr Margot so wichtig war. Es ist tragisch, dass homophobe Vorurteile etliche Zeugnisse queerer jĂŒdischer Frauen verhindert haben. Auch deswegen sollten wir Margots Geschichte aufmerksam zuhören.

2022 verstarb Margot 94-jÀhrig.

Anna HĂĄjkovĂĄ

Die Autorin ist Associate Professor of Modern Continental European History an der University of Warwick (Großbritannien). Dieser Artikel beruht auf einer frĂŒheren Fassung, die 2021 im Tagesspiegel veröffentlicht wurde.

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Am Mittwoch den 28. Juni 19:40 Uhr veranstaltet die HOSI Wien im Gugg einen Booktalk mit Anna Hajkova ĂŒber ihr Buch „Menschen ohne Geschichte sind Staub“.

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