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Gesundheit

Konferenzeröffnung gibt vielen Themen Raum

Ende Oktober 2022 fand einer der renommierten rein medizinischen HIV-Kongresse statt: die „HIV Drug Therapy“. Mit etwa 2.400 HIV-Ärzt*innen und Forscher*innen aus 91 Ländern feierte die Konferenz ihr 30-jähriges Jubiläum. Die Themen waren wie gewohnt biomedizinisch und wissenschaftlich, der Fokus liegt hier im Regelfall auf klinischen Studiendaten und aktuellen Entwicklungen in der HIV-Forschung. Dieses Jahr erhielten allerdings auch diverse andere Themen Raum. Allein die Kongresseröffnung präsentierte einen Querschnitt durch unterschiedlichste inhaltliche Ebenen, wie folgende Beispiele zeigen.

Entwicklung in globalen Zahlen

In der Eröffnungsrede gab eine der beiden Kongress-Präsidentinnen zunächst einen geschichtlichen Überblick, den sie mit ihrer eigenen Konferenzgeschichte verband. Sie selbst hatte im Jahr 2000 erstmals an der „HIV Drug Therapy“ teilgenommen. Damals wurden laut UNAIDS, dem Programm der Vereinten Nationen gegen HIV, jährlich etwa 5,4 Millionen Neuinfektionen registriert und 2,8 Millionen Menschen verstarben infolge von HIV/AIDS. Der Vergleich zu den aktuellen Daten 2021 zeigt zweifelsohne die Erfolge auf: Die jährlichen Neuinfektionen liegen jetzt bei ca. 1,5 Millionen und die Todesfälle sind auf 650.000 gesunken. Das ist immer noch eine Situation, mit der man sich keinesfalls zufriedengeben darf, aber es ist eine großartige Entwicklung in die richtige Richtung.

Veränderung in der Prävention

Durchaus emotional war auch der Rückblick zum Thema HIV-Prävention. Im Jahr 2000 war man noch weit entfernt von Schlagwörtern wie Treatment as Prevention (TasP) und dem Slogan U=U, also dass es unter effektiver HIV-Therapie zu keinen sexuellen Übertragungen kommt. HIV-Prävention vor 22 Jahren fokussierte unter anderem auf sexuelle Abstinenz. Im damaligen Jahresbericht der UNAIDS beginnt das Kapitel Prävention mit Themen wie „Den ersten Sex hinauszögern“, „Sex vor der Ehe: die HIV-Risiken“ und „Treue in der Partnerschaft“. Und noch etwas fällt auf: Im gesamten Bericht wird z. B. die PrEP (Präexpositionsprophylaxe) kein einziges Mal erwähnt. Heute ist die PrEP als hochwirksame Schutzmethode unumstritten und nicht mehr wegzudenken. Zu der Zeit war sie nicht einmal eine Vision.

Fehlender Wandel in der Gesellschaft

Im Gegensatz zu den beiden vorherigen Themen zeigt der Vergleich mit dem Jahr 2000 allerdings auch auf, was sich nicht verändert hat. Als Risikofaktoren für eine HIV-Infektion wurden bereits im damaligen Bericht unter anderem Stigma, Diskriminierung, Angst, fehlende Information oder Gewalt gegen Mädchen und Frauen angeführt. Der direkte Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Umgang mit Menschen und der HIV-Epidemie wird im Bericht genauso klar aufgezeigt, wie man es heute leider immer noch machen muss.

Science is political

Mit dem Kommentar „the situation is reminding us that science is also political“ wurde wieder einmal klar veranschaulicht, dass Wissenschaft allein eben nicht ausreicht. Der Erfolg aller medizinischer Errungenschaften ist ohne adäquate gesellschaftliche, strukturelle oder finanzielle Rahmenbedingungen kaum oder nur unzureichend nutzbar. Um dafür deutliche Beispiele zu finden, genügt neben HIV ein schneller Blick auf aktuelle Themen wie COVID-19, humane Affenpocken und Ebola oder auch Migrationsbewegungen, Frauenrechte im Iran oder selbstverständlich die Situation in der Ukraine.

HIV-Therapie für Menschen aus der Ukraine

Ein HIV-Arzt aus Polen berichtete, dass alle Kolleg*innen aus dem HIV-Bereich seit dem Krieg in der Ukraine vor großen Herausforderungen stünden. Denn der Großteil der Menschen, die aus der Ukraine flüchten mussten, befinde sich derzeit in ­Polen. Hier erhielten vor Kriegsbeginn etwa 15.500 Menschen eine HIV-Therapie in einem der 17 Behandlungszentren. Mit den Menschen aus der Ukraine ist die Zahl der zu betreuenden Personen mittlerweile um 15 % angestiegen. Und von den notwendigen Ressourcen abgesehen, zeigt sich hier ein ganz anderes Problem: In der Ukraine erhalten etwa 80 % aller Patient*innen eine HIV-Therapie, die ausschließlich für ressourcenlimitierte Regionen und Länder hergestellt wird. In Polen (und z. B. auch in Österreich) ist diese Therapie gar nicht erhältlich. Für die Ärzt*innen und ihre Patient*innen aus der Ukraine hat das zur Folge, dass viele auf eine andere HIV-Therapie umgestellt werden müssen, was eine zusätzliche Belastung darstellen kann.

Der Blick aufs große Ganze

Neben solchen HIV-bezogenen Themen fand die Eröffnung sogar Platz für einen breiten Blick aufs „große Ganze“. Denn gerade in Bezug auf Infektionserkrankungen spielen übergeordnete Zusammenhänge eine immer größere Rolle. Der Vortrag stellte sein Fazit gleich an den Beginn: „Die veränderte Welt erfordert eine sich verändernde Wissenschaft, um zukünftige Risiken durch neue Infektionskrankheiten erfolgreich zu bekämpfen.“

Mit der veränderten Welt ist hier z. B. die Klimaerwärmung gemeint. Sie ist mitverantwortlich, dass sich das Auftreten mancher Infektionen geografisch verändert. Als Beispiel kann man die Tigermücke nennen, durch die Zika- oder Dengue-Viren übertragen werden. Ursprünglich ist die Tigermücke in heißen, tropischen Regionen beheimatet, mittlerweile tritt sie auch in Südeuropa auf. Prognosen gehen davon aus, dass sich aufgrund der verändernden Temperaturen die Tigermücke und mit ihr einige Virusinfektionen über ganz Europa ausbreiten werden.

Neben dem Klima und den damit veränderten Lebensräumen hat die Globalisierung und die damit verbundene Mobilität massiven Einfluss. Je mehr Menschen und Waren weltweit unterwegs sind, desto mobiler und regional unabhängiger sind auch Krankheitserreger. Und noch eine Ursache ist quasi hausgemacht: die Urbanisierung. Je mehr Menschen auf engerem Raum zusammenleben, desto schneller breiten sich Erreger aus. Laut den Vereinten Nationen leben heute 56 % aller Menschen in städtischen Regionen und 2030 werden es über 60 % sein. Die Herausforderungen werden also keinesfalls weniger. Die SARS-CoV2-Pandemie hat dies nur zu deutlich bewiesen.

Allein diese drei Punkte zeigen, dass es überhaupt kein Wunder ist, dass das Potenzial für Infektionserkrankungen grundsätzlich zunimmt. Das ist keine besonders erhebende Perspektive, wenn man bedenkt, dass selbst lange bekannte und gut erforschte Infektionen wie HIV bislang nicht eliminiert werden können, da es an adäquatem Umgang und den richtigen Rahmenbedingungen fehlt.

Menschen im Mittelpunkt

Trotz der teils beklemmenden Themen waren auf dem Kongress auch Motivation und Energie spürbar. Die Eröffnung spannte einen Bogen über viele Aspekte und verdeutlichte damit zugleich die Leidenschaft und Empathie, die so viele Ärzt*innen für das Thema und die Patient*innen mitbringen. Dass HIV-Mediziner*innen auch häufig Aktivist*innen sind, zeigte z. B. ein Aufruf zur Änderung einer Formulierung. In den letzten Jahren kamen solche Aufrufe zu unterschiedlichen Begriffen bereits mehrfach vor. Anstelle des Begriffs „HIV-positive Menschen“ spricht man von „Menschen mit HIV“, eine Formulierung, die im deutschsprachigen Raum bereits breite Anwendung findet. Die Argumentation dahinter wurde von der einfordernden Ärztin mit folgendem Satz auf den Punkt gebracht: „People are people – not conditions.“

Von Birgit Leichsenring

Mikrobiologin und biomed. Wissenschaftskommunikatorin (www.med-info.at)