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Das „psychisch labile Geschlecht“ und ein bisschen Corona

Unsere psychische Gesundheit ist „dank“ der weltweiten COVID-19-Pandemie aktuell in aller Munde. Man gewinnt sogar den Eindruck, als würden wir alle endlich anerkennen, dass wir trotz guter körperlicher Gesundheit psychisch erkranken können – sogar teilweise sehr schwer – und dass diese Erkrankungen weder Einzelfälle sind, noch deren gänzliche Verhinderung in der Macht des Einzelnen steht.

Aber die Auseinandersetzung mit dem Thema psychische Gesundheit darf nicht an der Oberfläche bleiben, um nachhaltig positive Veränderungen zu bewirken. Genau das passiert aber zwangsläufig, wenn wir nur die aktuelle Situation in unsere Betrachtungen miteinbeziehen. Denn schädliche Einflüsse auf unsere psychische Gesundheit gab es schon vor dieser Pandemie zur Genüge und sie werden auch danach nicht einfach verschwinden. Dass Frauen besonders von den negativen Auswirkungen der Pandemie betroffen sind, darf als gesichert gelten. Sie machen den Großteil der viel gelobten Systemerhalter*innen aus, also jene Personen, die in systemrelevanten Berufen, wie z.B. im Lebensmitteleinzelhandel, in Krankenhäusern oder in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, arbeiten. Systemerhalter*innen waren und sind nicht nur einem erhöhten Infektionsrisiko, sondern vor allem enormen psychischen Belastungen ausgesetzt. Doch um die psychische Gesundheit von Frauen war es schon vor COVID-19 schlechter bestellt, als um jene von Männern. Psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen werden bei Frauen häufiger diagnostiziert als bei Männern. Ist am Mythos des „psychisch instabileren Geschlechts“ also vielleicht doch etwas Wahres dran?

Was uns psychisch krank macht

Die World Health Organisation (WHO) beschreibt psychische Gesundheit als einen Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft leisten kann. Das ist keineswegs ironisch gemeint, kann aber mit Blick auf die Lebensrealität vieler Frauen während dieser Pandemie fast schon zynisch anmuten. Auch ein Blick auf das bio-psycho-soziale Modell, jenes Modell, welches häufig zur Erklärung für die Entstehung von psychischen Erkrankungen herangezogen wird, lässt schnell erahnen, was psychisch krank macht: Es zeigt, dass es für unsere psychische Gesundheit einen Unterschied macht, wo wir wie, wann und mit wem aufwachsen und leben, welche finanziellen Mittel uns zeitlebens zur Verfügung stehen, welchen Zugang wir zu Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen haben und vieles mehr. Soweit so klar, aber was bedeutet das nun für Frauen?

Kann uns ein Popsong aus den 90ern dazu die Antwort liefern? Einen Versuch ist es zumindest wert, weil diese Verbindung uns wahrscheinlich ob ihrer Ungewöhnlichkeit in Erinnerung bleiben wird. “BITCH” von Meredith Brooks, ein Song, der mit seinem eingängigen Refrain gut zu den vielfältigen Rollenanforderungen an Frauen passt: “I’m a bitch, I’m a lover, I’m a child, I’m a mother, I’m a sinner, I’m a saint”, welchen man an dieser Stelle mit “I’m a cook, I’m a nurse, I’m a teacher and a housekeeper” weiterführen könnte. Die Positionen, die uns als Frauen von der Gesellschaft selbstverständlich zugeschrieben werden, würden für einen sehr langen Refrain ausreichen. Vielleicht ein amüsantes Partyspiel. Fakt ist aber schlicht, dass sich hinter den geschlechtsspezifischen Unterschieden in Bezug auf die psychische Gesundheit häufig krankmachende Lebensrealitäten, also soziale Umstände, von Frauen verbergen. Frauen mit schlechteren Bildungs- und ökonomischen Voraussetzungen sind davon besonders betroffen, ebenso alleinerziehende Mütter sowie Migrantinnen. Um auf “BITCH” zurückzukommen: Wir können also versuchen, all diesen Rollenanforderungen zu entsprechen. Unserer psychischen Gesundheit wird es nicht zuträglich sein. Das hat die Pandemie durch die zusätzliche Anforderung des Home-Schooling (I’m a teacher) oder die Übernahme der intensiven Pflege für Angehörige (I’m a nurse) eindrücklich bewiesen.

Frauen sind also aufgrund von sozialen Umständen häufiger von psychischen Erkrankungen betroffen – während einer weltweiten Pandemie gilt das noch mehr. Das ist eigentlich schlimm genug, aber noch düsterer wird es, wenn Faktoren wie die sexuelle Orientierung noch als zusätzliche Faktoren ins Spiel kommen. In den Forschungsergebnissen aktueller Studien unter lesbisch, schwulen und bisexuellen Personen finden sich durch die Bank erhöhte Raten an psychischen Erkrankungen oder Symptomen im Vergleich zu heterosexuellen Personen. Transidente Personen stehen oft vor nochmals ganz besonderen Herausforderungen in diesem Bereich. Eine aktuelle Studie aus Deutschland (DIW Berlin, Kasprowsky und Kolleg*innen) führt an, dass bei 26 Prozent der befragten LGBTIQ-Menschen schon einmal eine depressive Erkrankung diagnostiziert wurde, im Vergleich zu knapp zehn Prozent bei den cis-heterosexuellen Menschen.

Verzerrtes Selbstbild

Auch hier ist die Ursache in den sozialen Umständen zu suchen. Die noch immer rigiden Geschlechternormen und ihre negativen Auswirkungen wie Mobbing, Gewalterfahrungen, Angst vor Ausgrenzung und vieles mehr tragen absolut nichts Positives zu unserer psychischen Gesundheit bei. Aber nicht immer ist das für uns auch klar erkennbar. Besonders perfide ist nämlich, dass diese sozialen Umstände nicht nur von außen auf uns einwirken. Gesellschaftliche Vorurteile werden bereits in uns wirksam noch bevor wir selbst einer stigmatisierten Gruppe angehören. Wir lernen im Laufe unseres Aufwachsens nicht nur welche positiven und negativen Rollenzuschreibungen es in unserer Gesellschaft an das Mann- bzw. Frausein gibt und wenden diese Schemata auf uns selbst an. Wir lernen auch unwillentlich welche negativen gesellschaftlichen Einstellungen gegenüber Homosexualität vorherrschen und akzeptieren diese häufig. Das heißt, all diese negativen Bilder wenden wir automatisch auf uns selbst an, sobald wir vermuten, dass unsere eigene sexuelle Orientierung von der Mehrheit abweicht – mit beträchtlichen negativen Auswirkungen auf unsere Gesundheit.

Jede ihres Glückes Schmiedin?

Ein einseitiges Aufzeigen von psychischen Problemen, ohne den sozialen Kontext zu betrachten und zu diskutieren, ist, egal bei welcher Personengruppe, nicht nur nicht hilfreich, sondern kann auch zu einer falschen Pathologisierung führen. Es gibt Merkmale einer Person, die unabhängig von den sozialen Umständen zu einer psychischen Erkrankung führen können. Aber all zu oft sind es gesellschaftliche Rollenbilder, die ungleiche Verteilung von Ressourcen und die gesellschaftliche Inakzeptanz des Abweichens, die uns krankmachen. Und auch wenn gesellschaftliche Rollenbilder und Vorurteile in uns selbst wirksam werden, so muss doch eines klar sein: Wir können und dürfen die Verantwortung für die psychische Gesundheit nicht zur Gänze an das Individuum auslagern. Wir können und sollten als Individuen viel für unsere eigene psychische Gesundheit tun. Aber wir können es uns nicht alleine richten.

Es ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, Risikofaktoren für psychische Gesundheit zu identifizieren, klar zu benennen und zu verringern. Selbst im kleinen, abgeschlossen Rahmen einer therapeutischen Sitzung ist es nicht so, dass gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge keine Rolle spielen würden. Krankmachende Faktoren zu identifizieren, Zusammenhänge aufzuzeigen und persönliche Grenzen zu erkennen, ist wichtig für den individuellen Genesungsprozess und gehört zum psychotherapeutischen Handwerkszeug dazu. Dabei geht es niemals darum, eine Opferhaltung einzunehmen, sondern darum, die Verantwortung dort zu verorten, wo sie liegt. Wir suchen uns unser Geschlecht nicht aus, wir haben keinen Einfluss auf unsere sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität, aber wir alle gestalten mit unseren Haltungen und Handlungen die Gesellschaft mit. Ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, was uns psychisch krankmacht und was unsere psychische Gesundheit fördert, dieses Wissen mit anderen zu teilen und beständig an die Politik für die Verbesserung unserer sozialen Umstände zu appellieren, sollte quasi zur eigenen Psychohygiene dazugehören. Und was die Covid-19 Pandemie anbelangt: So bietet sie gerade durch die Zuspitzung im Bereich der Pflege und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch ein window of opportunity, um strukturelle Verbesserungen, die vor allem Frauen zugutekommen könnten, einzuführen.

Von Angela Mach

Angela Mach ist diplomierte psychiatrische Gesundheits- und Krankenpflegerin und Psychotherapeutin in Ausbildung unter Supervision und therapeutisch in freier Praxis tätig. Im Zuge der Kampagne #darüberredenwir des PSD-Wien leitet sie Schulworkshops zur Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen.