Wann gilt man als trans*? Gilt man erst dann als trans*, wenn man jeden Morgen gequält in den Spiegel blickt und sich wünscht, man wäre in einem anderen Körper aufgewacht? Oder ist man vielleicht auch schon trans*, wenn man nicht gerne den dem eigenen Geschlecht zugeordneten Stereotypen nachkommt? Oder ist man einfach dann trans*, wenn man sich selbst so bezeichnet?
Viele trans*-Personen fragen sich, wann die Schwelle überschritten ist, ab der sie das „Recht“ haben, sich als trans* bezeichnen zu dürfen. Muss man dafür die eigene Transition schon angefangen haben, oder gar schon darin fortgeschritten sein? Und wie sieht es mit nicht geouteten trans*-Personen aus? Kann man denn wahrlich trans* sein, wenn man es kaum bis niemandem erzählt? Und wie sieht es bei nicht-binären Geschlechtsidentitäten aus?
Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass ich mich lange davor scheute, mich als trans* zu bezeichnen; schließlich wollte ich nie das gegenteilige Geschlecht annehmen. In meiner Jugend fühlte ich eine, für mich damals unerklärliche, Solidarität mit trans*-Personen, obwohl ich mir sehr sicher war, kein Mann sein zu wollen. Gleichzeitig hatte der Titel der Frau immer einen bitteren Beigeschmack für mich, den ich mir genauso wenig erklären konnte. Ich fand mich also damit ab einfach ein „Tomboy“ zu sein; diese tragen schließlich gerne maskuline Kleidung und brechen mit gewissen gesellschaftlichen Normen. In meinem Kopf gab es damals nur zwei binäre Geschlechter: Mann und Frau. Nicht-binäre Identitäten lernte ich erst viele Jahre später kennen und als ich es tat, ergab alles plötzlich sehr viel mehr Sinn. Ich hatte endlich einen Namen dafür, wie ich mich fühlte, und es gab viele andere, die ebenso dachten und fühlten. Es war unglaublich befreiend, gleichzeitig kamen aber auch Zweifel in mir auf. Zweifel wie etwa „Was, wenn ich zu viel in meine Gefühlswelt hineininterpretiere?“, „Ist es nicht übertrieben, mich als ein anderes Geschlecht zu fühlen, nur weil ich nicht gerne Frau bin? Hat das alles nicht viel mehr mit der Sozialisation der Frau in unserer Gesellschaft zu tun?“. Lange dachte ich auch, dass ich nicht genug Leidensdruck hätte, nicht genug an mir verändern wollte, um mich als trans* bezeichnen zu dürfen. So wie mir ging es aber schon vielen. Internalisierte Transphobie führt nicht selten zu Selbstzweifeln und teils auch Selbsthass. „Warum kann ich nicht einfach „normal“ sein? Vielleicht will ich insgeheim nur Aufmerksamkeit. Vielleicht bin ich eigentlich doch cis und nicht trans*, und möchte einfach hervorstechen.“
Spoiler alert: Die meisten cisgeschlechtlichen Menschen denken nicht ständig darüber nach, mit welcher Geschlechtsidentität sie sich am meisten identifizieren.
Ein anderer Punkt, der manche trans*-Personen zum Zweifeln bringt, ist Geschlechtsdysphorie. Kann man denn trans* sein, wenn man zwar lieber einem anderen Geschlecht angehören würde, aber auch nicht in täglicher Misere lebt in der Geschlechtsrolle, die einem bei der Geburt zugeordnet wurde? Kann man denn wirklich trans* sein, wenn man vor dem inneren Coming-out keine großen Probleme mit dem eigenen Körper hatte?
Nicht jede Person, die trans* ist, fühlt Geschlechtsdysphorie, und diejenigen, die es tun, erleben sie alle unterschiedlich. Oftmals kommt Dysphorie auch erst dann so richtig auf, wenn man sich der potenziellen Möglichkeiten, wie man die eigene Geschlechtsidentität ausleben könnte, erstmals bewusst geworden ist. Einige berichten , dass sich ihre Dysphorie in Grenzen hielt vor dem Begreifen trans* zu sein; sie kannten schließlich nie etwas anderes. Ist es nicht normal, nicht zufrieden mit dem eigenen Spiegelbild zu sein?
Ein viel besserer Indikator für die eigene trans*-Identität ist viel mehr die Euphorie und was sie auslöst. Auch viele cis-Personen sind unzufrieden mit ihrem Körper, aus den verschiedensten Gründen. Deshalb sagt es mehr aus, wenn wir gewisse Attribute an uns betonen oder verändern, die Freude in uns auslösen. Ob es nun Kleidung ist, die gesellschaftlich einem bestimmten Geschlecht zugeschrieben wird, endlich einen Binder gefunden zu haben, der richtig passt, oder einen Packer oder BH zu tragen – das sind die Momente, in denen wir uns ein Stück mehr wie wir selbst fühlen, und die diese Zweifel, zumindest bei mir persönlich, verstummen lassen.
Um auf die Frage vom Anfang zurückzukommen, wann jemand denn nun „trans* genug sei“, bleibt nur zu sagen, dass die Geschlechtsidentität jeder einzelnen Person eine sehr individuelle Entdeckungsreise darstellt. Dabei geht es nicht darum, irgendeinen Standard zu erfüllen oder eine trans*-Checkliste abzuarbeiten, damit man alles getan hat, was gesellschaftlich von einer trans*-Person erwartet wird. Man ist sowohl geoutet als auch nicht geoutet trans* und es spielt keine Rolle, wie weit wir in unserer Transition sind. Ebenso schulden trans*-Personen niemandem, sich auf eine gewisse Art und Weise zu kleiden. Nicht-binäre Menschen schulden niemandem Androgynie, eine Trans*frau kann ebenso noch in der Männerabteilung einkaufen gehen, wie ein Trans*mann sich noch in Kleidung aus der Frauenabteilung wohlfühlen oder sich schminken kann. Kleidung kennt kein Geschlecht und ist ausschließlich durch gesellschaftliche Normen und Traditionen geprägt, die sich im Laufe der Jahrhunderte stetig veränderten.
Trans*-Personen sind niemandem Rechenschaft schuldig über ihre Identität. Für sich selbst herausgefunden und entschieden zu haben, dass man trans* ist, ist alles, was es braucht.
Text von Chris, Gesundheits- und KrankenpflegerIn*
arbeitet in der Gesundheitsberatung