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Als Lesbe sichtbar sein

Evelyn Torton Beck wurde 1933 in Wien geboren und musste als Sechsjährige mit ihren Eltern und ihrem Bruder vor dem NS-Regime fliehen. Die Großmutter blieb in Wien zurück und wurde von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet. Sie studierte später vergleichende Literaturwissenschaften und promovierte 1969 an der University of Wisconsin-Madison. 1982 wurde sie ebendort Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft, German and Women’s Studies. 1984 folgte sie einem Ruf an die University of Maryland in Washington D.C., wo sie das Women’s Studies Program etablierte. Nach ihrer Emeritierung 2002 promovierte sie 2004 in Klinischer Psychologie an der Fielding Graduate University, wo sie bis heute als Alum Fellow am Creative Longevity and Wisdom Project tätig ist.

„Nice Jewish Girls. A Lesbian Anthology“ ist eine ihrer erfolgreichsten Publikationen. Barbara Fröhlich und Petra M. Springer sprachen mit Evelyn Torton Beck.

BF|PS: Wir haben anlässlich 40 Jahre HOSI-Wien-Lesben*gruppe ein Buch gemacht, mit dem Titel: SICHTBAR. Wie wichtig ist lesbische Sichtbarkeit für dich? 

ETB: Sie ist für mich sehr wichtig. Gegenwärtig ist es ganz anders als früher. In den 1970er und 1980er Jahren wollten wir alle sichtbar sein und haben vieles gemacht, um sichtbar zu bleiben. Es ist noch immer wichtig, aber die Gesellschaft hat sich verändert. Damals sollten wir überhaupt nicht da sein. Daher mussten alle Homosexuellen, aber besonders Frauen und Lesben, sichtbar gemacht werden. Ich war z. B. sehr aktiv in Frauenstudien. Frauen und auch Lesben sind weniger sichtbar. Das finde ich problematisch. Ich denke mir, wie kann ich als Lesbe sichtbar sein, wenn es kein Thema ist. In den frühen Jahren, wo immer ich war, wollte ich, dass sie wissen, wer ich bin: Lesbe und Jüdin. Aber jetzt ist es gefährlicher, aktivistisch zu sein. Das ist furchtbar und macht mich sehr traurig. Wir sind weit gekommen und gleichzeitig gibt es Rückschritte. Antisemitismus, Homophobie und Sexismus steigen. Wir hatten damals Aufkleber, die wir auf sexistische Werbung geklebt haben. Darauf stand: Das schadet Frauen. Heute würde man dafür eingesperrt werden, heute ist alles komplizierter, finde ich. 

BF|PS: Du hattest Anfang der 1970er Jahre dein Coming-out, inwieweit war Sichtbarkeit aufgrund von der Stonewall prägend? 

ETB: Die waren furchtbar wichtig. Für mich waren das sehr wichtige Sachen, die uns alle geholfen haben, aber ich wohnte tausend Meilen weg von New York und konnte nicht dabei sein. Es war der Anfang, als Lesben und Schwule sichtbar wurden, obwohl wir schon immer da waren.   

Ich habe geheiratet, habe zwei Kinder mit einem Mann, aber ich fühlte mich schon als junge Frau lesbisch. Ich wusste, dass ich mit Frauen zusammen sein wollte, aber wo ich aufgewachsen bin, man musste wahnsinnig sein. Ich habe in Büchern gelesen, dass es eine Krankheit ist, dass man eingesperrt wird. Da habe ich gesagt, das bin ich nicht. Später, als ich schon geoutet war, habe ich wirklich verstanden, dass diese Zeit damals sehr schlimm war für Lesben. Ich glaube die Möglichkeit des Lesbischseins steckt in jeder Frau, wie Alix Dobkin sagt: „Every woman can be a lesbian“. Mir hat der Feminismus geholfen.  

Ich habe eine Tochter, die Lesbe ist und die vor mir ihr Coming-out hatte. Sie war mein Vorbild. Es war schwierig für mich. Ich war sehr für die Freiheit für alle, für meine kleine Tochter, die 14 Jahre alt war, aber das konnte ich nicht ganz klar sehen damals. Als ich dann endlich herauskam, war ich schon Professorin und jeder hat geklatscht. Sie hat sich geärgert, für mich war es so leicht, aber für sie habe ich es so schwer gemacht. Das war nicht schön, aber … Mit meiner Tochter bin ich heute sehr gut befreundet. 

BF|PS: „Nice Jewish Girls. A Lesbian Anthology“ (1982, 1989) – erste lesbische jüdische Anthologie, wie wurde diese aufgenommen von Jüdinnen und Juden? 

ETB: Ja, es gab nur einzelne Texte in feministischen Zeitschriften. Dieses Buch war so ein Zusammenkommen. Es gab nach der Anthologie nicht viele Bücher zum Thema, nicht viele jüdisch-lesbische Anthologien.  

Das Buch entstand, weil es so viel Homophobie in der jüdischen Gemeinde gab, sowie Antisemitismus bei den Lesben. Die Presse hat das Buch ziemlich gut aufgenommen. Nur eine ganz kleine Gruppe von Männern hat gesagt: „Ihr seid überhaupt nicht jüdisch, raus aus der jüdischen Gemeinde.“ Aber das waren Ausnahmen. Ich habe noch alle Rezensionen, etwa 50, das waren damals sehr viel.

BF|PS: Du warst Mitbegründerin der jüdischen feministischen lesbischen Gruppe Di Vilde Chayes? 

ETB: Ja, das ist jiddisch. Ich war eine der Gründerinnen. Die meisten, die dabei waren, haben für dieses Buch „Nice Jewish Girls“ geschrieben, wie Adrienne Rich. Wir haben uns ein paar Mal im Jahr getroffen. Da haben wir besprochen, was heißt es, jüdisch zu sein, es ist eine Religion, aber es ist auch noch viel mehr. Gibt es eine Geschichte von jüdischen Lesben? Zum Beispiel Gertrude Stein, die jüdisch war, lesbisch lebte, aber niemand hat darüber gesprochen. Wir hatten nicht die Absicht, uns in die israelische Politik einzumischen. Das war nicht unser Ziel, aber manche Frauen haben geschrieben, es sollte kein jüdischer Staat sein und haben viel gegen den Staat geschrieben. Damals wurden wir irgendwie hineingezogen. Das war etwas, das wir dann geändert haben. Wir mussten etwas darüber sagen. Israel ist sehr kompliziert.  

Wir konnten nicht so lange zusammenbleiben, weil Adrienne Rich, die körperlich behindert war, musste nach California ziehen, ich war in Wisconsin, das war dann zu schwierig zusammenzuarbeiten. In einem Ordner habe ich Sachen, die wir schrieben, aber nie gedruckt wurden. Es gab ein kleines Heft, einen Newsletter, der war auch für jüdische Lesben. Und auch noch eine kleinere Gruppe jüdischer Lesben, Töchter von Holocaustüberlebenden, da war ich dabei, die sich auseinandersetzten was es bedeutet lesbische Töchter von Holocaustüberlebenden zu sein. Manche waren selbst Holocaustüberlebende. Ich bin eine der Ältesten, es gibt nicht viele, die so alt wie ich sind. Ich war schon „erwachsen“, als ich Feministin wurde und ich bin lesbische Feministin. Wir haben hier eine jüdische, lesbische Gruppe, die zwei, drei Mal pro Jahr zusammenkommt, Chanukka feiert oder sich zu Pessach trifft. Pessach ist sehr wichtig für uns, weil es ein Fest der Freiheit ist.  

BF|PS: Wir haben gelesen, du malst und schreibst Gedichte. 

ETB: Ich male mehr, als ich Gedichte schreibe. Ich habe ein Gedicht über meine Mutter geschrieben. Ich benutze die Kunst. Ich finde, dass die Kunst sehr die Seele schützt. Meistens male ich Landschaften, expressionistische Bilder, die mehr abstrakt sind. Ich habe auch ein Bild meiner Großmutter, die in Auschwitz umgekommen ist, mit Bleistift gezeichnet.  

BF|PS: Wie wurde in deiner Familie der Holocaust verarbeitet?  

ETB: Man durfte nicht viel darüber sprechen. Meine Mutter war sehr erschüttert nach dem Krieg, als sie herausgefunden hatte, dass ihre Mutter in Auschwitz ermordet wurde. Sie hat manchmal von ihrer Mutter gesprochen. Mein Vater war ein ganzes Jahr im KZ Buchenwald und Dachau, er hat wenig darüber gesprochen. Ich glaube, er wollte das nicht mit uns besprechen, das war zu schwierig. Mein Bruder und ich haben kein Deutsch mehr gesprochen, als wir hierher kamen habe ich nur Italienisch gesprochen, wir waren drei Jahre in Italien. Mit meiner Mutter und meinem Vater habe ich Deutsch gesprochen, aber dann aufgehört Deutsch zu sprechen. In der höheren Schule, als 15,16-jährige, las ich Thomas Mann. Tonio Kröger war meine Lieblingsgeschichte, über diesen Maler, der nicht in die deutsche Gesellschaft passt. Deshalb habe ich angefangen, Deutsch zu studieren und die Sprache wieder erlernt. In den letzten Jahren war ich nach Deutschland eingeladen, auch mehrmals nach Wien. Ich habe auch eine Therapie gemacht, nicht nur als Therapeutin, sondern auch als Patientin. Die Sprache ist irgendwie viel fließender zurückgekommen. Ich fühle mich ganz anders jetzt in der Sprache, sie ist sehr wichtig für mich. Wien hat mich immer angezogen, meine Mutter ist dort geboren, sie ist mit Antisemitismus aufgewachsen. Obwohl sie jüdisch war, die Familie war nicht religiös. Ich glaube, sie fühlte sich als Wienerin, und hat mich unterstützt. Mein Vater war höchst patriarchal. 

BF|PS: Danke für das interessante Gespräch. 

Von Barbara Fröhlich

Schriftführerin HOSI Wien/Names Project Wien